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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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Vielleicht bis gleich. Vielleicht bis morgen.
    Sie grüßen sich nicht. Hier grüßt man sich nie. Es muß zu den Gewohnheiten des Hauses gehören und gibt einem ein Gefühl der Leere.
    Draußen ist es sehr kalt, viel kälter als an den vorhergehenden Tagen. Der Himmel ist klar. Die Giebel der Dächer wirken spitzer als sonst.
    Morgen früh werden Eisblumen an den Fenstern sein.
4
    Merkwürdig. Frank hat den größten Teil seines Lebens, den weitaus größten, damit verbracht, das Schicksal zu hassen, hat es geradezu mit seinem Haß verfolgt, hat es in jedem Winkel gesucht, um es herauszufordern, um sich mit ihm zu schlagen.
    Und nun plötzlich, als er gar nicht mehr daran denkt, macht ihm das Schicksal ein Geschenk. Anders kann man es nicht nennen. Gewiß, der Chef kann auch trotz seines Fischbluts einen Augenblick der Schwäche oder der Rührung gehabt haben. Ebenso kann es sein, daß er einen technischen Fehler gemacht hat. Das ist jedoch wenig wahrscheinlich, denn bisher hat er noch nie einen Fehler gemacht. Wahrscheinlich ist es, daß der Fehler in einer anderen Abteilung, bei jener hohen Instanz, an die Holst sich gewandt hat, gemacht worden ist. Jemand dort, der nichts von dem Fall weiß, hat den Antrag mit einem Zeichen versehen, das ›ja‹ bedeutet.
    Holst ist unten! Holst ist in dem kleinen Büro. Er steht dicht neben dem Ofen, und etwas hinter ihm steht Sissy.
    Sie sind beide da.
    Man hat Frank nichts davon gesagt. Man hat ihn geholt, als handle es sich wieder um ein Verhör. Seit vor fünf Tagen seine Mutter und Minna da waren, ist er zwölf- oder fünfzehnmal verhört worden. Er war fast am Ende seiner Kraft. Er fühlte sich so schwach, daß er manchmal fast ohnmächtig wurde.
    Holst ist da. Frank ist jäh stehengeblieben und hat ihn angesehen. Er hat auch Sissy gesehen, aber er hat weiter Holst angeblickt. Er konnte die Füße nicht mehr bewegen und stand wie angewurzelt. Wunderbar ist es, daß Holst nicht daran denkt, den Mund zu öffnen.
    Aber was sollte er auch sagen?
    Als ob er die Frage verstände, die in Franks Blick liegt, und als ob er darauf antwortete, schiebt er Sissy behutsam vor.
    Der Chef sitzt bestimmt dort hinter seinem Ministerschreibtisch. Seine Helfer stehen bestimmt auch auf ihrem Posten. Da ist der Ofen, das Fenster, der Hof, der Wachtposten vor seinem Schilderhaus.
    Aber es ist, als sei das alles nicht vorhanden. Nur Sissy ist da, in einem schwarzen Mantel, der sie sehr schlank erscheinen läßt, und einer schwarzen Kappe, unter der ihr blondes Haar hervorquillt. Sie sieht ihn an. Sie ist nicht dem Weinen nahe wie Lotte. Sie ist nicht rührselig wie Minna. Vielleicht bemerkt sie gar nicht, daß ihm drei Zähne fehlen, daß er Bartstoppeln im Gesicht hat und daß sein Anzug zerknittert ist.
    Sie geht nicht bis zu ihm heran. Sie wagen es nicht, aufeinander zuzugehen, weder sie noch er. Würden sie es tun, wenn sie es wagten? Es ist nicht sicher.
    Sie öffnet den Mund halb. Sie wird sprechen. Sie beginnt, wie er es so oft vorausgesehen hat: »Frank.«
    Sie will noch mehr sagen, und er hat Angst davor.
    »Ich bin gekommen, um dir zu sagen …«
    Er murmelt verlegen: »Ich weiß.«
    Er hat befürchtet, sie werde sagen: »… daß ich dir nicht böse bin« oder »… daß ich dir verzeihe …«
    Aber sie sagt weder das eine noch das andere, sondern blickt ihn nur unverwandt an. Noch nie wohl haben sich zwei Menschen mit solcher Intensität angesehen.
    Sie sagt schlicht: »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich dich liebe.«
    Sie hält ihre Tasche, ihre kleine schwarze Tasche in der Hand. Es ist alles fast wie in seinem Traum, nur daß der Chef, der sich sorgfältig eine Zigarette gedreht hat, die Zunge herausstreckt, um das Papier anzufeuchten.
    Frank antwortet nicht. Er kann nicht antworten. Er darf nicht antworten. Er muß sich beeilen, sie anzusehen. Auch Holst muß er ansehen. Holst hat nicht seine Filzstiefel an, die er immer anzog, wenn er seine Straßenbahn fuhr, sondern Schuhe wie jedermann. Er trägt einen grauen Anzug und hält den Hut in der Hand.
    Frank rührt sich nicht. Er wagt nicht, sich zu rühren. Er fühlt, daß seine Lippen sich bewegen, aber nicht, weil er etwas sagen will. Das ist vielleicht seine Nervosität, er weiß es nicht.
    Da tritt Holst auf ihn zu, ohne sich um den Chef und die Ministranten zu kümmern, und legt ihm eine Hand auf die Schulter, genauso, wie Frank immer gedacht hat, daß es sein Vater tun würde.
    Glaubt Holst, ihm eine Erklärung zu
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