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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher
Autoren: Howard Norman
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aber noch leserlich: U 99 . Eine Motorsäge heulte auf, als ein Mann in Schutzkleidung versuchte, das Sperrnetz durchzuschneiden. Nach wenigen Minuten sahen wir ein Stück des Stahlnetzes ins Wasser fallen. Durch das Kreischen der Säge wurden Dutzende Möwen aufgescheucht, sie kreisten über den Booten, als würden sie von einem Kadaver angezogen, wie sie ihn noch nie gesehen hatten, jedenfalls nicht im Hafen von Halifax.
    Der RCN-Offizier winkte uns weg, und wir kehrten um, doch während wir uns von den Lichtern der Schlepper entfernten und in immer dunklere Gewässer kamen, entdeckten wir die Überreste einer Leiche in einer deutschen Uniform, die – schon stark verwest – ihre Form mit der Bewegung des
Wassers veränderte. Tom stellte den Motor ab, und wir trieben langsam dahin.
    Wirklich, das Einzige, was an der Leiche noch fest aussah, war die Gürtelschnalle. Ich leuchtete sie mit meiner Taschenlampe an, als plötzlich eine Möwe herabstieß und nach der glitzernden Schnalle schnappte. Die Möwe wollte weiterfliegen und wurde zurückgerissen, doch sie ließ die Gürtelschnalle nicht los. Immer wieder flatterte sie auf, während sie versuchte, die Schnalle zu lösen. Schließlich gab die Möwe auf und stieg wieder in den schwarzen verregneten Himmel hinauf.
    Wir trieben mit unserem Boot ganz nah zu der Leiche hin, und als Tom sie mit seinem Haken anstieß, sagte Hermione: »Wenn du so weitermachst, dann kotz ich dir auf deine Schuhe. « Tom zog seinen Haken zurück. »Wisst ihr, was?«, schlug er vor. »Ich bin dafür, dass wir uns nicht um diese Überreste da kümmern. Lassen wir sie einfach treiben.«
    »Finde ich auch«, sagte ich.
    »Einstimmig angenommen«, meinte Hermione.
    »Schade, dass dieser deutsche Matrose da im Wasser nicht mehr mitbekommen hat, wie wir das gerade gelöst haben – wie wir’s hier in Kanada machen, in einem Land, wo jeder seine Stimme hat«, meinte Tom.
    Wir blickten zu dem U-Boot hinüber. Dieses ganze makabre Treiben. Funken sprühten von der Motorsäge. Ich hatte das Gefühl, dass es ziemlich widersinnig war, was da rund um uns ablief.
    »Wir hätten ein paar Sandwiches oder irgendwas mitnehmen sollen«, sagte ich.
    »Ich hab auch nicht drangedacht«, meinte Tom.
    Wir blieben noch ungefähr fünf Stunden draußen. Da waren Brieftaschen, Schuhe, Teller, lauter Dinge dieser Art. Ein
Logbuch. Ein Album mit Familienfotos. Viele Kleidungsstücke. Durch unsere Ferngläser verfolgten wir die Fortschritte des Bergungsteams, und dann, kurz vor dem Morgengrauen, sahen wir, wie U 99 an den Kai gezogen wurde. Es hatte fast die ganze Nacht gedauert, aber dann hatten sie es endlich geschafft.
    »Lassen wir’s auch gut sein«, sagte Tom schließlich. »Wir haben genug getan.«
    Hermione zeigte auf die fünf Jutesäcke, die wir gefüllt hatten. »Keine übermäßige Beute«, meinte sie. »Abgesehen von den Überstunden war’s eine ziemlich sinnlose Nacht. Aber das andere erzählen wir niemandem, oder?«
    »Das nächste Mal, wenn so ein Bastard in unserem Hafen auftaucht, sollten wir was aushandeln«, schlug Tom vor. »Wir machen’s nur, wenn wir danach sofort in den Ruhestand gehen können, bei vollen Bezügen, plus ein Haus für jeden auf Cape Breton. Sonst sagen wir Nein.«
    »So ziehen wir’s durch, okay«, stimmte Hermione zu.
    »Ich war noch nie auf Cape Breton«, sagte ich. »Ist es schön dort?«
    Nahe am Ufer wich Tom knapp einer Schar friedlich schlafender Meerenten aus. Die beiden Schlepper mit dem U-Boot waren gerade geräuschvoll vorbeigetuckert. Am Purdy’s Wharf standen wir eine Weile im Schutz eines Planendachs, das auf Pfosten aufgespannt war, und sahen zu, wie sechs Angehörige der Royal Canadian Navy den Inhalt unserer Säcke auflisteten und fotografierten. Sie machten das sehr sorgfältig.
    »Ich würde sagen, das waren sieben Überstunden«, stellte Tom fest.
    »Siebeneinhalb«, wandte Hermione ein. »Ich hab genau auf die Uhr geschaut.«
    Charles kam mit seinem Wagen zu uns. Wir stiegen ein, und
zuerst wurde Hermione zu Hause abgesetzt. Als Charles anhielt, sagte er: »So wie ihr ausseht, war die Nacht ein ziemlicher Hammer. Heute ist was für ein Tag?«
    »Donnerstag«, sagte Hermione.
    »Also, dann nehmt den Rest des Tages und den Freitag frei«, verkündete Charles.
    »Du meine Güte, Charlie«, sagte Hermione. »Willst du mich heiraten?«
    »Muss ich’s meiner Frau sagen?«
    »Die Frage zeigt, dass du’s schon vorher bereust«, meinte Hermione. »Vergiss
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