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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher
Autoren: Howard Norman
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ersten Zusammentreffen mit ihrem zukünftigen Ehemann. Die Bildunterschrift zu den vier Fotos lautete: »Vom britischen Schatz zur kanadischen Ehefrau in weniger als einer Stunde.«
    Jeder von unserem Team hatte Tausende Frauen an den Relings der Ozeandampfer gesehen, die hier anlegten – Aquitania , Mauretania , Queen Elizabeth , Queen Mary , Ile de France , Lady Rodney , Pasteur . Wir sahen sie wenige Stunden bevor sie zu rechtmäßigen Ehefrauen wurden. Das militärische Personal leitete sie die Gangway hinunter – einige hatten sogar Kinder –, und auch ihr Gepäck wurde von Soldaten getragen. Das Ganze hatte einen recht würdigen Rahmen.
    Ich sah mich weiter um und kam zu einem Bild von einer Frau, die ziemlich verloren und verwirrt dreinblickte, mit einem gezwungenen Lächeln im Gesicht. Unter dem Bild stand: »Das Heimweh wird bald vergehen, und die blassen Wangen werden sich röten vor Freude, wenn die Kriegsbraut der Liebe ihres Lebens begegnet.« Als Hermione zu mir trat, las sie den
Text ebenfalls. »Wenn du mich fragst«, bemerkte sie, »dann hat diese Frau gerade die Liebe ihres Lebens verlassen in … woher ist sie eigentlich?«
    »Edinburgh, steht da.«
    »Schau dir ihr Gesicht an – also, ich bin mir ganz sicher, sie hat die Liebe ihres Lebens in Edinburgh zurückgelassen.«
    »Wie kannst du das wissen?«, fragte ich.
    »Das sieht man«, beharrte sie. »Weißt du, was ich ihr wünsche, wenn ich das Foto sehe? Ich wünsche ihr, dass sie wenigstens gut behandelt wird, und dass sie vielleicht Kinder bekommt. Da ist sie nach Kanada gereist – wahrscheinlich die Hälfte der Überfahrt seekrank –, und was erwartet sie hier? Stell dir vor, wie sie von dem Schiff runtergeht und irgendeinen Typ unten an der Gangway stehen sieht, der nur eine ganz entfernte Ähnlichkeit mit dem Foto hat, das er ihr geschickt hat, und sie betet wahrscheinlich im Stillen: »Bitte, Gott, gib, dass es nicht er ist!«
    »Und das erkennst du alles in diesem einen Foto?«, fragte ich.
    »Okay, man kann vielleicht sagen, dass ich ein klein wenig voreingenommen bin.«
    Ich mochte Hermione sehr. Man fühlte sich einfach wohl in ihrer Gesellschaft. »Ich hol mir mal ein paar Karottenstäbchen mit Frischkäse, Wyatt. Wir treffen uns dann dort drüben bei dem großen Bild, ja?«
    Es war das größte Foto der Ausstellung. Es zeigte einen Arzt, der direkt in die Kamera blickte. Er stand neben einer Frau von ungefähr dreißig Jahren, die aussah, als hätte sie gerade eine Demütigung hinnehmen müssen, und die trotzdem noch stolz wirkte. Sie schaute ebenfalls in die Kamera. Der Arzt hielt zwar ein Stethoskop an ihre Brust, aber sie trug noch ihren Mantel.
Der Text zu dem Foto lautete: »Liebevoll und sorgfältig untersucht Dr. Roald Ivy eine französische Einwanderin, so als wäre sie längst eine Kanadierin.«
    Hermione kam zu mir und sagte laut: »Mein Gott – das ist ja Mona!«
    »Du kennst diese Frau?«, fragte ich und betrachtete ihr Gesicht genauer.
    »Tom!«, rief Hermione durch den Raum und zog damit viele Blicke auf sich. »Tom, guck dir das mal an!« Als Tom herüberkam, tippte Hermione auf das Gesicht der Frau auf dem Foto. »Tom, das ist Mona d’Ussel! Meine Nachbarin. Schräg gegenüber von mir, in der Bliss Street.«
    »Glaubst du«, meinte Tom.
    Ich erwartete schon, Hermione würde ihm ein paar derbe Schimpfwörter an den Kopf werfen, weil er ihre Behauptung anzweifelte. Aber sie sagte nur: »Also gut, dann gehen wir doch zu ihr. Jetzt gleich.«
    »Was ist mit Rigolo’s?«, wandte ich ein.
    »Rigolo’s hat bis eins offen«, erwiderte sie und knöpfte ihren Regenmantel zu.
    »Eins weiß ich jedenfalls, wenn ich mir das Foto ansehe«, meinte Tom. »Dieser Dr. Ivy ist ein Quacksalber. Durch den dicken Mantel kann er ihren Herzschlag sicher nicht hören.«
    »Ich werd’s mir merken«, sagte Hermione. »Wenn ich das nächste Mal einen Arzt brauche, werd ich nicht zu Dr. Ivy gehen. «
    Der Regen hatte kein bisschen nachgelassen, doch Hermione wollte uns nun unbedingt beweisen, dass sie recht hatte. Sie war sauer auf Tom und achtete darauf, dass ich zwischen ihr und ihm ging, bis wir zu dem Haus in der Bliss Street 45 kamen, das immerhin zehn Blocks entfernt war. »Hier wohnt Mona«,
verkündete Hermione. »Wie ihr seht, steht mein Haus drüben auf der anderen Seite.«
    Wir traten auf die Veranda und lugten durch das Wohnzimmerfenster. Da waren mindestens zwanzig Frauen im Wohn-und Esszimmer. Es machte einen recht
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