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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher
Autoren: Howard Norman
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Bleistifte spitzen soll, dann nimmt sie Gift.‹ Im Rechnen unterdurchschnittlich. Liest gerne und viel, ist jedoch
nicht bereit, sich darüber mit anderen auszutauschen – ›Ich habe eine Menge Bücher gelesen, aber du wirst nie erfahren, welche.‹ Oft sehr widersprüchliches Verhalten – sie zeigt sich schlecht in Dänisch, achtet aber darauf, dass die Lehrer hören, wie sie auf dem Spielplatz fließend Dänisch spricht.«
    Nach dem Tod deiner Mutter hast du angefangen, Cornelia Briefe zu schreiben, obwohl du vielleicht gar nicht mehr weißt, wie sie ausgesehen hat, weil du noch so klein warst. Wahrscheinlich kannst du dich auch nicht daran erinnern, wie du den großen Holzlöffel abgeleckt hast, mit dem sie die Glasur auf einen Kuchen gestrichen hat, oder dass sie oft mit dir spazieren ging und stundenlang mit dir Bilder gemalt hat. Man könnte sagen, dass du mit deinen Briefen da fortgesetzt hast, wo deine Mutter aufgehört hat, aber ich bin mir sicher, dass du in deiner ganz eigenen Art geschrieben hast, Marlais.
    Jedenfalls hast du Cornelia auf dem Laufenden gehalten, und sie hat an mich weitergegeben, was es bei meiner Tochter Neues gab. »Sicher, es sind Nachrichten aus zweiter Hand, die du bekommst«, sagte Cornelia, »aber wessen Schuld ist denn das? Du kannst froh sein, dass du überhaupt etwas von Marlais hörst.« Vergangenen September erfuhr ich, dass du einen Abschluss in Bibliothekswissenschaft am Trinity College in Dublin gemacht hast. Und du warst die Klassenbeste! Als ich das las, war ich sehr stolz, auch wenn sich dein Leben so weit weg von mir abspielt. Du meine Güte – Neuschottland, Dänemark, Irland –, du hast wirklich schon einiges gesehen von der Welt.
    Halb vier, vier, halb fünf, fünf Uhr morgens, immer noch der 23. April. Ich habe mir gerade Kaffee gemacht. Draußen wird es langsam hell, das Fenster ist nass vom Regen der Nacht. In der Schlaflosigkeit springen die Gedanken oft hin und her. Zum Beispiel fällt mir gerade ein, wie ich vorige Woche einmal mit
Tom Blackwell und Hermione Rexroth von der Arbeit nach Hause ging. Wir hatten zehn Stunden bei unruhigem Wasser gearbeitet, acht Stunden davon am Queen’s Wharf und bis hinaus zur Hafenmündung. Und dann noch hinüber nach Dartmouth, was zwei Stunden in Anspruch nahm. Nach der Arbeit regnete es immer noch, und so behielten wir unsere Regenkleidung an. Es war dunkel, die Straßenlaternen waren wie blasse erstarrte Explosionen im Nebel, und wir brachen auf zu Rigolo’s Pub. Unterwegs zündete sich Hermione eine Zigarette an – wir standen genau vor der Museumsgalerie. Im Fenster wurde auf eine Ausstellung hingewiesen, die den Titel FOTOGRAFIEN VON KRIEGSBRÄUTEN trug.
    »Hey, Leute«, meinte Hermione, »schauen wir doch mal rein.«
    Nach ein paar tiefen Zügen warf Hermione die Zigarette in den Rinnstein, und Tom und ich folgten ihr in die Galerie. Sie bestand aus einem großen weiß gestrichenen Raum. Fünf Stehlampen und drei Webteppiche sollten dem Raum den Charakter eines Wohnzimmers verleihen. Es waren nicht wenige Leute da, die hin und her gingen – die Frauen ziemlich schick gekleidet, einige Männer im Smoking. Hermione, Tom und ich konnten da nicht mithalten. Es gab einen Tisch mit einem weißen Tischtuch, Weinflaschen und Gläsern. »Das ist ja eine ziemlich feine Veranstaltung«, meinte Hermione.
    »Wenigstens haben wir heute keine Säcke voller Dünger rausgefischt, so wie letzte Woche«, sagte Tom. »Sonst würde diese Galerie schnell ihre Klientel verlieren, was?«
    »Ich hab gar nicht gewusst, dass du Französisch sprichst«, erwiderte Hermione. » Klientel klingt jedenfalls französisch.«
    Tom betrachtete die Fotos vor uns an der Wand. »Jetzt bin ich fünfundvierzig und hoffe immer noch, dass ich mal eine
Frau finde«, sagte er. »Aber die Frauen hier auf den Fotos sind ja alle vergeben.«
    »Nachdem es Kriegs- Bräute sind, kann man fast davon ausgehen«, bemerkte Hermione lächelnd und reichte Tom ein Glas Wein.
    Insgesamt hingen dort fünfundfünfzig Fotografien. Das Erste, was ich sah, war eine chronologisch angeordnete Serie von vier Fotos, die eine britische Frau zeigten – die meisten dieser Kriegsbräute waren aus Großbritannien, die zweitmeisten kamen aus Frankreich, einige wenige aus Italien und Holland. Die Fotoserie mit dieser Britin begann damit, dass sie über die Gangway den Luxusdampfer Pasteur verließ, den man im Krieg als Truppentransporter eingesetzt hatte. Sie war auf dem Weg zu ihrem
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