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Der Schattenjäger (German Edition)

Der Schattenjäger (German Edition)

Titel: Der Schattenjäger (German Edition)
Autoren: Chris Moriarty
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und ihr wurde klar, dass nur ein Wesen am Grund dieses Brunnens hausen konnte: ein Dibbuk.
    »Und Sie wissen auch, welches Wesen dort unten haust.«
    Er packte sie bei den Schultern und zwang sie auf die Knie. Sie wehrte sich, doch er war stärker. Ihr Gesicht drang in die Zaubersphäre des Brunnens ein, und im gleichen Augenblick hatte sie das Gefühl, mit dem Kopf in klares Wasser zu tauchen und bis auf den Grund zu sehen.
    Dort unten aber hauste kein Ungeheuer, nein, es war nur ihr Sohn Sascha. Und obwohl sie wusste, dass der Dibbuk eine Gefahr für das Leben ihres Sohnes darstellte, war er doch ein Teil von ihm – und wie konnte sie als Mutter anders, als auch diesen Teil ihres Kindes zu lieben?
    »Was wollen Sie von mir?«
    »Nicht viel. Nichts, was Ihre Lieben in Gefahr bringt. Nichts, was Sie davon abhielte, wieder nach Hause zu gehen, Essen zu kochen und Ihren alltäglichen Gewohnheiten nachzugehen. Sie sollen nur für mich arbeiten …«
    »Aber ich arbeite doch für Sie.«
    Sie sah ihn verwirrt und verängstigt an.
    »Ja, gewiss!« Sein lautes Lachen brach sich an den Mauern und hallte von den Gewölben der Decke wider.
    »Das macht die Sache ja so amüsant!«
    Morgaunt streckte sich, in seinem schwarzen Abendanzug wirkte er beeindruckend groß. Wie um sie zum Schweigen zu bringen, legte er einen Finger an ihren Mund. »Und jetzt ist es an der Zeit, Sie wieder heimzuschicken. Sie werden gleich einen Zauberspruch lernen, den Sie sicherlich nie von Ihrem Vater erfahren hätten. Schade, dass Sie sich an die Lektion nicht erinnern werden.«
    Er legte ihr seine Hand auf den Kopf und begann mit kalter, harter Stimme Worte zu sprechen, die ihr in die Seele schnitten:
    »Ich beschwöre Euch, Zachriel und Schabriri, Gebieter über Erinnern und Vergessen, löscht die Erinnerung an mich aus dem Gedächtnis dieser Frau.«
    Dann sang die stählerne Stimme den Namen Schabriri, wobei sie bei jeder Wiederholung einen Buchstaben wegließ. Man hätte es für ein Kinderlied halten können, wäre der Ton der Stimme nicht so tödlich ernst gewesen. An der schwarzen Magie hinter diesem Lied bestand kein Zweifel, denn schon schwindelte ihr.
    »Briri!«
    Sie spürte einen Zug hinter den Augen, als ob jemand ihre Erinnerungen an die Entführung mit einer Schnur gefesselt hätte und nun mit schierer Willenskraft aus dem Gedächtnis zöge.
    »Riri!«
    Sie wehrte sich, aber wer es auch sein mochte, der am anderen Ende der Schnur zog, er war so viel stärker.
    »Iri!«
    Ein schneidender Schmerz ging durch ihr Inneres – und dann lösten sich ihre Erinnerungen und rannen wie Wasser durch offene Hände.
    Sie schaute sich um, blinzelte und rieb sich die Augen. Wo befand sie sich? Was sie hierhergeführt hatte, konnte nicht wichtig sein, sonst würde sie sich doch daran erinnern.
    »Ri!«
    Nachdem das Echo der letzten Silbe verklungen war, drehte sie sich um und stieg, leise wie ein Schlafwandler, die Marmortreppe hinauf in die Eingangshalle und schritt in die dunkle, traumschwere Nacht.

1 Der Abgang des Klezmerkönigs
    »Gehen Sie doch weiter«, rief der Direktor des Hippodrome, »hier gibt es nichts zu sehen!« Während er zu den Leuten sprach, versuchte er mit seinem Körper den Blick auf die Leiche des
Klezmer
königs zu verstellen. Das gelang ihm recht gut, wie Sascha fand.
    Maurice Goldfaden war zwar von kleinem Wuchs, besaß aber Körperfülle. Nicht, dass er fett gewesen wäre, aber er machte mehr her als die meisten anderen Menschen. Sein dicker Bauch schien ein Eigenleben zu führen, wie er die Hemdknöpfe schier sprengte, unter der Weste hervorschaute und über den Hosenbund quoll. Es erinnerte Sascha an die Feuertreppe einer Mietskaserne. Tatsächlich schien alles an Maurice Goldfaden die Grenzen des Üblichen zu übersteigen. Sein Haar stand in alle Richtungen ab, war weder durch Kamm und Bürste noch Pomade zu bändigen und schüttete sich bei jeder Kopfbewegung in wilde Locken aus. Auch seine Rede war überlebensgroß. Wenn er flüsterte, war er dennoch in der hintersten Saalreihe zu hören, und dabei gestikulierte er so dramatisch, dass man sich fragte, ob er durch den ständigen Umgang mit Schauspielern nicht vergessen hatte, wie normale Leute redeten. Nur seine Augen waren schmal, schwarz, hell leuchtend und lagen so tief in seinem fleischigen Gesicht wie die Mohnfüllung in
Hamentaschen
. Ein Blick in diese Augen lehrte Sascha, dass wohl kaum etwas im Hippodrome geschah, ohne dass Maurice Goldfaden davon gewusst
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