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Der Schattengaenger

Der Schattengaenger

Titel: Der Schattengaenger
Autoren: Monika Feth
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außergewöhnlich schönen Mädchens. So schutzlos und preisgegeben, dass er augenblicklich befürchtet hatte, jemand könnte dieses Gesicht verletzen. Darüber stand in roter Flammenschrift: Stirb und lächle.
    Stirb und lächle!
    Was für ein grandioser Gegensatz!
    Er hatte das Buch mitgenommen. Es hatte ihn die ganze Nacht wach gehalten. Er hatte es nicht gelesen - er hatte es verschlungen. Als wäre er ausgehungert gewesen nach genau diesen Sätzen, diesen Bildern.
    Schon immer hatte er gern gelesen. In der Phantasie war alles möglich. Da gab es keine Einschränkungen. Da wurde man nicht von Skrupeln geplagt. Man konnte alle Gefühle ausleben, unzensiert.
    Im Kopf.
    Man konnte sogar in die Haut des Mörders schlüpfen. Ihm  über die Schulter gucken. Ihm die Hand führen! Und wurde nicht von der Polizei gejagt, nicht vor Gericht gestellt und eingesperrt.
    Lesen war absolute Freiheit. Es war noch besser als Kino. Weil keiner, wirklich NIEMAND, eingriff, kein Regisseur, kein Schauspieler, kein Kameramann. Da war nur die Geschichte, und da war er, der sie las.
    Lesen war seine Droge gewesen. All die Jahre zu Hause. Eine beschissene, kümmerliche Kindheit lang. Hätte er seine Bücher nicht gehabt, wäre er ausgerastet irgendwann. Sie hatten es ihm ermöglicht, still wegzugehen. An einen Ort, an dem ihn niemand erreichte. Nicht die Eltern, nicht die Schwestern und nicht der Onkel, der bei ihnen lebte und das Klima mit seiner Bosheit vergiftete.
    Ein Panoptikum, hatte er oft gedacht. Manchmal hatte er einfach nur dagesessen und sie beobachtet bei ihrem Kleinkrieg, den sie Familienleben nannten. Statt sich die Augen auszukratzen oder die Köpfe einzuschlagen, machten sie sich mit Worten fertig. Sie beschimpften und beleidigten einander, stießen wüste Drohungen aus.
    Nicht laut. Niemand verlor die Kontrolle. Man sagte sich die gröbsten Gemeinheiten mit einem kleinen Lächeln. Es brodelte. Aber unter der Oberfläche.
    Probleme wurden unter den Teppich gekehrt. Die Leute sollten nichts merken. Die Nachbarn nicht, die viel zu neugierig waren. Und die Bekannten nicht, die allesamt hereinfielen auf das Bild der heiligen Familie.
    Und die Freunde? Vielleicht hatte der eine oder andere eine Ahnung. Doch sie bohrten nicht nach, mischten sich nicht ein. Vielleicht hätten sie sonst entdeckt, unter welchen Qualen der kleine Junge litt, der nirgendwo richtig zu Hause war, nicht einmal in sich selbst. Vielleicht hätten sie ihm helfen können.
    Die Bücher waren ein Trost. Sie zeigten ihm Menschen, denen es ähnlich erging wie ihm. Die Opfer waren und ihrer Rolle nicht entfliehen konnten.
    Sie zeigten ihm aber auch die Täter. Und er fragte sich bei jedem von ihnen, ob sie die Wahl gehabt hatten. Wahrscheinlich nicht. Das Leben stellte jeden an seinen Platz. Man war eine Figur in einem Spiel, das die Götter spielten.
    An dem Tag, an dem er achtzehn geworden war, hatte er sein Bündel geschnürt und war weggegangen. Diesmal richtig und für immer. Keiner hatte das Recht gehabt, ihn daran zu hindern oder ihn zurückzuholen. Keiner hatte es versucht. Er war erwachsen und für sich selbst verantwortlich.
    Sein Bündel geschnürt. Es war tatsächlich nicht viel gewesen, was er mitgenommen hatte, ein paar Jeans, Pullis, T-Shirts. Er hatte sich vorgenommen, auf der Straße unterwegs zu sein On the road again. Für unbestimmte Zeit.
    Mit Gelegenheitsjobs hatte er sich über Wasser gehalten. Er hatte immer jemanden gefunden, bei dem er unterschlüpfen konnte für eine Nacht oder zwei. Zur Not tat es auch eine Scheune oder eine Garage.
    Und dann war er bei einem seiner Jobs hängen geblieben. Handlangerarbeiten in einer Autowerkstatt. Es war nicht gerade sein Traum gewesen, mit ölverschmierten Händen und einem hartnäckigen Schmutzfilm unter den Fingernägeln an Vergasern und Zylindern zu fummeln, aber der Boss hatte ihm eine Wohnung über der Werkstatt angeboten, gutes Geld und schließlich die Möglichkeit, eine Ausbildung bei ihm zu machen.
    Nach der Lehre war er geblieben. Und er war immer noch da.
    Es war kein übles Leben. Er hätte es schlechter treffen können. In manchen Augenblicken war er dem Glücklichsein sogar ziemlich nahe gekommen. Und dann hatte er das Buch  von Imke Thalheim entdeckt. Es hatte alles auf den Kopf gestellt.
    Da sprach ihm jemand aus der Seele. Da war einer, der seine geheimsten Gedanken und Sehnsüchte kannte. Der Ähnliches durchgemacht haben musste wie er.
    Er saugte jede Zeile in sich auf, die sie
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