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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman
Autoren: Michael Saur
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wie er zurücktrat. Er senkte seine Augen und fiel sofort in einen Zustand des Halbschlafes. Ich schlurfte etwas weiter und setzte mich auf den Stuhl. Amos begrüßte mich mit einem schwachen Lächeln und einem Nicken. Er hielt das untere Ende des Telefons sehr dicht an seinen Mund, sein Zeigefinger auf der Rückseite des Hörers ausgestreckt. Ich nahm meinen Hörer und hielt ihn an mein Ohr. Da war der Klang seines Atmens, das sich eigenartig intim anhörte.
    »Warum sind Sie gekommen?«, fragte ich nach einer kurzen Pause.
    Während er schwieg, durchlief mich ein plötzliches Schaudern, als ob ein kühler Wind in mich eindränge. Und während diese fröstelnde Kälte durch mich hindurchwehte, fiel mir etwas ein, das ich längst vergessen hatte, und die Erinnerung spielte sich vor mir ab wie ein Film. Als Kind hatte ich einmal die Williamsburg Bridge zu Fuß überquert. Ich konnte mich selbst sehen, und ich konnte sehen, wie mein Vater meine Hand hielt. Ich hörte den Klang der ratternden U-Bahn, die in beiden Richtungen vorbeifuhr, und ich hörte die Autos. Ich erinnerte mich sogar an die Jahreszeit. Es war ein kalter Tag im März. Der East River hatte die Farbe eines großen Fisches, seine Wellen glitzerten in der Sonne wie die eines Ozeans. Und ich erinnerte mich daran, was mir mein Vater an diesem Tag gesagt hatte. Er war stehen geblieben und hatte sich eine Zigarette angezündet, und wir hatten hinunter aufs Wasser gesehen, und dann hatte er mich angelächelt. »Weißt du«, hatte er gesagt, »hier bist du auf die Welt gekommen. Du wurdest auf einer Brücke geboren, im Taxi, auf dem Weg zum Krankenhaus.« Er lächelte mich an und sah glücklich aus, und seine eigene Erinnerung daran bereitete ihm großes Vergnügen. Ich war vier Jahre alt an dem Tag, und es hatte mich mit Zuneigung erfüllt, ihn glücklich zu sehen, und jetzt, als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass es das erste Mal gewesen war, dass ich mich selbst glücklich fühlte, jene Art von Glück, das die primitiveren Bedürfnisse eines Kindes wie Hunger oder Schlaf übertraf. Es war fast so, als wäre ich in dem Moment ein Mensch geworden.
    »Kate und Greta sind an die Westküste gezogen. Am Tag nach der Verhandlung haben sie das Auto gepackt und sind davongefahren. Ich stand einfach nur da und sah zu, wie sie ihre Habseligkeiten nahmen und dann in den Morgen verschwanden. Ich beschwere mich nicht. Ich hatte immer gefühlt, dass das kommen würde. Ich wusste bei der Verhandlung, dass das Ende nah war.«
    Er sah hinunter und dann wieder auf. Plötzlich erschien ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht.
    »Wissen Sie, was ich getan habe, nachdem sie weg waren? Ich kaufte Durants Auto. Sein Sohn verkaufte es mir.«
    Dann wurde er wieder ernst.
    »Schauen Sie«, sagte er, »ich bin nicht hier, um um Vergebung zu bitten. Sie haben allen Grund der Welt, mich zu hassen. Mehr noch, viel mehr. Nur, die Wahrheit ist, ich denke nicht, dass ich irgendetwas anders machen würde, wenn es so etwas wie eine zweite Chance geben könnte. Natürlich gibt es das nicht.«
    Eine weitere Pause folgte. Dann sagte er: »Wie viele Schriftsteller schrieb ich oft über das, was ich immer tun wollte. Ich fand diese Möglichkeit verführerisch. Eher zu schreiben als zu tun. Als Künstler, als Erfinder, hat man diese Freiheit. Für den Rest der Welt passiert dann das, worüber wir schreiben. Erst schwappte die Welt in das Buch. Dann floss sie zurück, überschwemmte das, worüber ich schrieb, die wahre Welt, verstehen Sie, was ich meine?«
    Er pausierte wieder.
    »Wissen Sie, ich hätte Greta nie etwas getan. Aber ich bedrohte sie durch meine Gegenwart. Ich bedrohte sie durch meine Gedanken.«
    Seine Stimme war nun auf ein Flüstern reduziert.
    »Aber ich liebte sie auf eine Art, von der ich wusste, dass sie eine Gefahr darstellte. Ich fing an, meine Frau in dem Haus zu fühlen auf eine Art, die mir nicht gefiel. Ich spürte sie wie die große, scharfe Klinge eines Messers, und es gab viele Nächte, in denen ich sie im Bett nicht angerührt habe. Es ist erstaunlich, was Menschen fühlen, was Menschen ohne Worte wissen, finden Sie nicht? Oder auch, was Menschen nur glauben zu wissen, auch das. Wie schwer es tatsächlich ist, irgendetwas vor einem Liebsten im Geheimen zu halten. Ich wusste nichts von Durant, ich wusste am Anfang nicht, dass es ihn gab. Ich wusste es wirklich nicht. Menschen lesen unsere Bücher. Wir haben keine Ahnung, wer sie sind. Sie verbleiben im Dunkeln,
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