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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman
Autoren: Michael Saur
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uns her. Der kurzhaarige Junge und das rundgesichtige Mädchen starrten mich durch ihr Fenster an und sahen, was die metallenen Gitterstäbe auf der Innenseite des Polzeibusses von außen freigaben. Dann trat mein Fahrer aufs Gas und ließ das andere Auto hinter sich.
    Wir erreichten kurz vor Sonnenuntergang Dunnamora, die Stadt, die der Clinton-Correctional-Einrichtung am nächsten liegt, dem einzigen Gefängnis im Staat New York, das über einen Todestrakt und einen elektrischen Stuhl verfügt. Der Horizont hatte sich aufgeklärt, als wir in der Dämmerung die einzige Ampel des Ortes passierten. Nach ein paar letzten Meilen kamen wir vor dem Gefängnis an, einer grauen Festung unter dem immer noch stählernen Himmel. Der Fahrer drückte auf seine Hupe, und das metallene Tor öffnete sich, flankiert von einem Mann mit Gewehr, in Zeitlupe. Ich wurde von zwei Wachen aus dem Fahrzeug geführt und an Händen und Füßen gefesselt in ein kleines Gebäude begleitet. Ein glatzköpfiger Mann, der vorausging und für uns die Türen öffnete, flüsterte mir ins Ohr: »Willkommen in unserem Sibirien. Du bist tot.« Meine Wache aus dem Kleinbus und mein Fahrer waren ohne ein Wort verschwunden, aßen bereits Steak oder Rippchen, nahmen einen Drink oder zwei zu sich; taten das, was Männer am Ende eines gewöhnlichen Arbeitstages eben taten.
    Formalitäten mussten erledigt werden, wofür meine Hand- und Fußfesseln abgenommen wurden. Ein Mann in grüner Uniform stellte knappe Fragen, deren Antworten die Zuchthausbehörden ohnehin gewusst haben mussten. Der Mann fragte nach meinem Geburtsort, meinem Geburtsdatum und nach meiner Sozialversicherungsnummer. Die letzte Frage, ob ich verheiratet oder ledig sei, beantwortete ich unwahrheitsgemäß. Die Kuppen meiner acht Finger und der Daumen blieben von der Tinte der Fingerabdrücke tiefschwarz, obwohl ich mit einem feuchten Papiertuch daran rieb. Mir wurden ein oranger Overall, eine synthetische Decke und ein Handtuch ausgehändigt, das dünn genug war, um durchzusehen, wenn man es gegen das Licht hielt. Mit der Decke und dem Handtuch unter dem Arm wurde ich in meine Zelle geführt. Für den Weg vom unverputzten Büroraum dorthin bekam ich wieder die Hand- und Fußschellen angelegt.
    Das Metallbett saß im Zementfußboden verankert; das Waschbecken und die Toilette waren ebenfalls aus Metall und im Boden eingelassen. Die orange Zudecke war speziell für die Todestraktkandidaten. Andere Häftlinge bekamen blaue Zudecken. Ich glaube nicht, dass jemand weiß wieso. Über der Toilette hing ein stummer Schwarz-Weiß-Fernseher, der auf einen Sportkanal eingeschaltet war. Sein Lautstärkeknopf war herausgerissen.
    Fünfzehn Minuten nachdem ich in meiner Zelle ankam, brachte ein Wärter auf einem Tablett zusammen mit einer billigen Zahnbürste, einem hotelgroßen Stück Seife und einem Satz Plastikbesteck das Essen. Kekse, ein Stück weichen Käse, Eistee und eine blasse Orange. Er schob alles durch den Schlitz in der Tür, eine Einwegvorrichtung, die einem Posteinwurf gleicht. Eine schwierige Nacht folgte. Ich litt unter Schweißausbrüchen. In der Zeit dazwischen hatte ich Probleme zu atmen, fühlte mich wie ein ertrinkendes Tier, das in einen Sack gesteckt und in einen See geworfen worden war. Alle paar Minuten hörte ich ein kleines, raschelndes Geräusch an der Eisentür. Darin saß ein Guckloch, durch das jemand in die Zelle spähte. Nach ein paar Stunden schaffte ich es, mich ein wenig zu beruhigen. Das Frühstück kam zu einer Zeit, als die Sonne noch nicht aufgegangen sein konnte. Statt des Eistees stand ein Glas Magermilch auf dem Tablett.
    Der Todestrakt ist ein stiller Ort. Nur wenn wir Häftlinge nach draußen geführt werden, erhebt sich ein Stimmendurcheinander. Das Hintergrundrauschen verwandelt sich in einen unmusikalischen Chor, wo niemand miteinander zu reden scheint, und die Dissonanz dessen machte mich nervös, weil sie scheinbar einen Aufstand ankündigte, oder eine Messerstecherei oder Prügelei in der Menge vertuschen sollte. Schritte von den Wächtern und ein paar kleine Transistorradios mit schwachen Rhythmen, die gegen die Ohren der Häftlinge gepresst waren, gaben sonst den Ton an, neben den Toiletten, die alle gleichzeitig zweimal am Tag gespült wurden, dem konstanten Tropfen meines eigenen Waschbeckens, und einem gelegentlichen Weinen, das sich dann mit den anderen Lauten vermengte. Ich fing an, auf das Rascheln an der Tür und auf die Toilettenspülung zu
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