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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman
Autoren: Michael Saur
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aber wir berühren diese Menschen, ohne es zu wissen. Nur, manchmal entpuppen sich diese Menschen als gefährlich. Etwas, das wir geschrieben haben, kann tief in ihre Seelen eindringen. Sie stellen sich vor, man redet nur mit ihnen, sie glauben dann, ein Buch ist nur für sie geschrieben. Man kann ihr Feind werden oder ihr Freund, der einzige Mensch auf der Welt, obwohl man sie nie getroffen hat.«
    In der Spiegelung des Fensters sah ich den Wärter herantreten.
    »Zeit ist um«, rief er. »Komm schon.«
    Ohne eine weitere Warnung packte er mich von hinten. David Amos ließ sein Telefon wie vor Schreck fallen. Durch einen mächtigen Atemzug, den er nahm, schienen sich seine Augen zu verengen. Er griff mit einem Satz seines ganzen Körpers noch einmal nach dem Hörer. Der Wärter ließ meinen Arm für eine Sekunde los, und ich schnellte ebenfalls nach dem Telefon.
    »Los, los, die Zeit ist um«, rief der Wärter erneut und zerrte am Telefon. Ich versuchte, ihn festzuhalten, umklammerte ihn mit meinen Fingern.
    »Lass gehen, los jetzt. Die Zeit ist um«, kläffte der Wärter ungeduldig, sein Vokabular so begrenzt wie immer. Er riss den Hörer aus meiner Hand und knallte ihn zurück auf das an der Wand befestigte Telefon, verpasste es beim ersten Mal, aber landete ihn erfolgreich beim zweiten Versuch auf der Gabel.
    »Genug, lass uns gehen, beweg dich. Die Zeit ist um.«
    Der Wärter schubste mich zum Ausgang. Ich drehte meinen Kopf noch einmal um. Amos stand vor dem Coca-Cola-Automaten, sein dicker Anorak hing von seinem Arm wie ein totes Tier. Ich wurde wieder gestoßen. Ich wurde um die Ecke und auf die Treppe zu getreten. Ich hüpfte meinen Weg hinauf, Stufe für Stufe. Ich erreichte das obere Stockwerk. Mir wurde gesagt, ich solle hinuntersehen, auf den Boden blicken. Ich hörte das ungesunde Husten eines Häftlings in der Zelle neben mir. Ich hörte das Klicken des Schlosses meiner Zellentür. Ich hörte, wie sich die harten Schuhe entfernten, als die beiden Wärter den Flur hinuntergingen.
    Ich glaubte zu wissen, warum Amos gekommen war. Es war wieder meine Geschichte. Ich wusste, Amos hatte sie mir zurückgegeben. Das war die Absicht seines Besuches. Ich bildete mir ein, dass es auf grundlegende Güte – oder zumindest Ehrlichkeit – seines Herzens deutete. Er kannte seine eigene Schuld und hatte einen Sinn dafür entwickelt, und indem er das tat, beging er einen grausamen Akt, und ich bin sicher, er hatte in den Tiefen seiner eigenen Qual gelitten.
    Und als ich dies endlich verstand, sah ich die Welt wie nie zuvor. Ich betrachtete sie als schönes, erstaunliches Geschenk. Mir war von den klügsten Autoren gesagt worden, dass am Ende alles verschwinden würde. Davon bin ich nicht mehr überzeugt. Wenn man mich je gefragt hätte, ob ich an ein Leben nach dem Tod glaubte, hätte ich gesagt, ich bin Agnostiker. Aber vielleicht gibt es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich sah auf die Bücher in meiner Zelle. Marmorn und mit Rissen und schwach nach Säure riechend. Sie hatten immer eine Bedeutung für mich als Gegenstände gehabt. Ja, aber mehr als das, sehr viel mehr als das, hatten sie eine Möglichkeit einer Flucht vom Leben geboten. Aber jetzt kam ich an einen Punkt, wo ich diese Flucht nicht mehr brauchte.
    Und an dem Tag, an dem Amos mich im Gefängnis besuchte, fing ich an zu schreiben. Sich zu erinnern ist ein akribisches Geschäft, aber wie ich im ersten Satz sagte, war ich in der Lage, durch das, was geschehen war, mit Leichtigkeit zu reisen. Ja, ich kann sagen, dass die Ereignisse des vergangenen Jahres, ja meines ganzen Lebens, zu mir zurückkehrten. Und jetzt, wo ich am Ende des Erzählens angelangt bin, denke ich an einen Mann, den ich einmal auf einer Straße in New York City an einem klaren Septembermorgen beobachtet habe, wie er im muntersten Licht den Gehweg mit einem Gartenschlauch abspritzte, und ich sehe ihn so deutlich, dass ich ihn zeichnen könnte. Er sieht einfach und glücklich aus, den Gehweg mit ernstem Vergnügen über und über mit dem klaren Wasser abspritzend. Gleichzeitig vermied er mit großer Vorsicht, Fußgänger und ihre Hunde nass zu machen. Ich entschied, ich würde diesem Unbekannten die Geschichte erzählen, vielleicht nur wegen des Ausdrucks auf seinem Gesicht, das nichts weiter als Zufriedenheit ausdrückte. Denn wenn man niemanden mehr hat, dem man etwas erzählen kann, werden alle Geschichten zu nichts, verflüchtigt sich
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