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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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abwenden.
Seitdem hatte sich das Geschäft erholt, und man
beschäftigte ein halbes Dutzend Gehilfen, so dass
Frederick sich seiner eigentlichen Leidenschaft widmen
konnte: der Detektivarbeit. Diese Leidenschaft teilte er
mit einem anderen alten Bekannten Sallys --- einem
jungen Mann namens Jim Taylor, der zwei oder drei
Jahre jünger als sie war und früher als Botenjunge in der
Firma ihres Vaters gearbeitet hatte. Jim hatte eine
Vorliebe für Sensationsgeschichten, wie man sie in
Groschenromanen findet, und er besaß das loseste
Mundwerk in der ganzen Stadt. Bei ihrem ersten
gemeinsamen Abenteuer hatten er und Frederick den
gefährlichsten Killer Londons gestellt und zur Strecke
gebracht. Um ein Haar hätten sie dabei ihr Leben
gelassen, aber jeder wusste, dass er sich auf den anderen
in allen Gefahren verlassen konnte.
Sally, Frederick und Jim teilten vieles miteinander ---
und Frederick hätte nur zu gern noch mehr geteilt. Er war
ganz offen: Er liebte Sally, immer schon, und er wollte
sie heiraten. Ihre Gefühle waren dagegen komplizierter.
Es gab Zeiten, da himmelte sie ihn an, schien ihr
niemand fesselnder, intelligenter, mutiger und witziger
zu sein als er; und dann gab es Zeiten, da ärgerte sie sich
maßlos über ihn, weil er seine Zeit damit vertat, mit
irgendwelchen Apparaten herumzuhantieren oder
gemeinsam mit Jim verkleidet durch London zu streifen
oder sich wie ein kleiner Junge aufzuführen, der nicht
weiß, wie er sich beschäftigen soll. Wenn sie überhaupt
jemanden liebte, dann Freds Onkel, Webster Garland,
offiziell ihr Geschäftspartner: ein sanfter, etwas
unordentlicher, aber genialer Mann, der aus Licht und
Schatten und menschlichem Ausdruck wahre
fotografische Meisterwerke schuf. Webster Garland und
Chaka, die beiden liebte sie. Und sie liebte ihre Arbeit.
Und Fred ---wenn sie jemals heiratete, dann keinen
anderen; aber sie würde ihn nicht heiraten. Jedenfalls
nicht, bevor das Gesetz über das Vermögen von
Ehefrauen endlich verabschiedet war.
Nicht, dass sie ihm nicht getraut hätte, das hatte sie ihm
schon hundertmal versichert, aber es ging hier ums
Prinzip. Dass sie jetzt noch unabhängig und Partner in
einem Geschäft mit eigenem Vermögen und Besitz sein
konnte und einen Augenblick später, kaum dass ein
Geistlicher sie zu Mann und Frau erkläre hatte, alles, was
sie besaß, ihrem Gatten zu übergeben hatte (so lautete
das Gesetz) - das war ein Gedanke, den sie nicht ertragen
konnte. Mochte Frederick auch besondere gesetzliche
Verfügungen vorschlagen, mochte er auch schwören,
niemals an ihr Eigentum zu rühren, mochte er bitten und
betteln, im Zorn mit Gegenständen werfen und dann
wieder über sich und sie lachen: Es war alles vergebens.
Sie ließ sich nicht erweichen.
Tatsächlich war die Lage nicht so eindeutig, wie sie
behauptete. Seit 1870 bestand ein Gesetz zum Vermögen
von Ehefrauen, das einige Ungerechtigkeiten, wenn auch
nicht die größte, beseitigt hatte. Dieses Gesetz war an
Frederick vorübergegangen, er wusste nicht, dass Sallys
Vermögen unter bestimmten Bedingungen ihr Eigentum
bleiben konnte. Weil sich aber Sally ihrer Gefühle nicht
so sicher war, pochte sie auf diesen Grundsatz --- und
fürchtete die Verabschiedung eines neuen Gesetzes, denn
dann würde sie sich endgültig entscheiden müssen.
Kürzlich war es deswegen zwischen den beiden zum
Streit und zu einer spürbaren Abkühlung gekommen. Seit
Wochen hatten sie nicht miteinander gesprochen und sich
nicht gesehen. Sie war überrascht gewesen, wie sehr sie
ihn vermisste. Er wäre genau der Richtige gewesen, um
über diese Sache mit der Anglo-Baltischen
Schiffahrtsgesellschaft zu sprechen...
Sie dachte an seine Schnodderigkeit, seinen Witz, sein
strohblondes Haar, während sie die Kaffeetassen
wegräumte. Sollte er doch den ersten Schritt tun, sie hatte
jetzt ernsthafte Arbeit zu erledigen. Damit setzte sie sich
an ihren Schreibtisch, schlug den Ordner mit den
Zeitungsausschnitten wieder auf und las alles über Axel
Bellmann.
DER MAGIER DES NORDENS
    Wenn sich Sallys Freund Jim Taylor nicht gerade mit
seinen Bekannten aus der Londoner Halbwelt herumtrieb
oder Geld bei Pferderennen verwettete oder mit
Revuetänzerinnen und Barmädchen flirtete, dann, ja dann
schrieb er Rühr- und Schauerstücke. Er hatte eine
ausgemachte Leidenschaft für das Theater. Als Jim zum
ersten Mal Fredericks Schwester Rosa (mittlerweile
einem ehrwürdigen Geistlichen angetraut) begegnete,
war sie noch im Theater aufgetreten. Sie
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