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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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mich, Miss Walsh, genauso wie für Sie. Es geht um
Ihr Geld, aber um meinen Namen, meine Reputation,
meinen Beruf... Ich werde den Geschäften der AngloBaltischen Schifffahrtsgesellschaft auf den Grund gehen
und herausfinden, was da geschehen ist. Und wenn
irgend möglich hole ich Ihr Geld zurück. Ich bezweifle
sehr, dass Sie sich weigern würden, es anzunehmen. «
Die alte Dame schwieg eisig, und in ihren Augen
funkelte es gefährlich. Doch Sally bot ihr die Stirn und
hielt ihrem Blick stand. Dann aber wurden Miss Walshs
Augen plötzlich freundlich, und sie klatschte in die
Hände. »Auch recht«, sagte sie. Und beide lächelten.
Die Spannung im Raum war verflogen. Sally stand auf
und räumte die Unterlagen beiseite.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, fragte sie. »Es ist
zwar ein bisschen primitiv, den Kaffee auf dem
Kaminfeuer zu kochen, aber er schmeckt. «
»Oh gerne. Als Studenten haben wir unseren Kaffee
immer auf dem Kaminfeuer gekocht --- das ist schon
lange, lange her. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Keine fünf Minuten später unterhielten sich die beiden
Frauen wie alte Freundinnen. Der Hund, der inzwischen
wieder aufgewacht war, verzog sich vom Kamin, Kaffee
wurde gekocht und in Tassen geschenkt. Sally und Miss
Walsh entdeckten jene Kameradschaft, die nur Frauen
kannten, die um ihre Bildung hatten kämpfen müssen.
Miss Walsh hatte am North London Collegiate College
unterrichtet, aber nie einen akademischen Titel erworben;
auch Sally nicht, obgleich sie in Cambridge studiert, ihre
Prüfung abgelegt und dabei gut abgeschnitten hatte.
Frauen waren damals an der Universität zugelassen,
konnten aber keine akademischen Abschlüsse machen.
Sally und Miss Walsh waren sich aber darin einig, dass
auch dies mit der Zeit kommen werde... nur wann, das
stand noch in den Sternen.
Als Miss Walsh sich schließlich erhob und sich zum
Gehen wandte, bemerkte Sally ihre sauber gestopften
Handschuhe, den abgewetzten Saum ihres Mantels und
die blank geputzten alten Stiefel, denen eine neue
Besohlung gut getan hätte. Die alte Dame hatte mehr als
Geld verloren --- nämlich die Möglichkeit, nach einem
im Dienst für andere verbrachten Arbeitsleben in
bescheidenem Wohlstand und ohne materielle Sorgen zu
leben. Sally schaute sie an und erkannte, wie sehr Miss
Walshs Haltung trotz Alter und Sorgen fest, aufrecht und
würdevoll war - und ertappte sich dabei, dass auch sie
sich aufrechter hielt.
Sie gaben sich zum Abschied die Hand. Miss Walsh
bewunderte nochmals den Hund, der, kaum war Sally
aufgestanden, sich ebenfalls erhoben hatte und
erwartungsvoll neben ihr stand. »Ein prachtvolles Tier«,
sagte sie. »Habe ich richtig gehört, dass Sie ihn Chaka
rufen?«
»Chaka war ein Zulukönig«, erläuterte Sally. »Der
Name schien passend. Er war ein Geschenk, nicht wahr,
mein Guter? Er ist in einem Zirkus zur Welt gekommen.«
Sie kraulte ihn hinter den Ohren, worauf das große Tier
den Kopf hob, bewundernd zu seiner Herrin hochschaute
und ihr mit seiner langen Zunge die Hand leckte.
Miss Walsh lächelte. »Ich schicke Ihnen alle
Unterlagen, die ich habe«, sagte sie. »Ich bin Ihnen
wirklich sehr dankbar, Miss Lockhart. «
»Bis jetzt habe ich noch nichts für Sie getan, außer dass
Sie durch mich ihr Geld verloren haben«, versetzte Sally.
»Es könnte sein, dass nichts weiter dahinter steckt - das
kommt öfter vor. Aber ich werde mich bemühen, mehr
herauszufinden. «
Sallys Herkunft war ungewöhnlich, auch für eine
Person, die wie sie ein ungewöhnliches Leben führte.
Ihre Mutter hatte sie nie gekannt, und ihr Vater, ein
ehemaliger Militär, hatte ihr viel über Feuerwaffen und
Finanzdinge beigebracht, aber sehr wenig über alles
andere. Sie war sechzehn, als er einem Mordanschlag
zum Opfer fiel. Darauf geriet auch sie in ein gefährliches
Netz dunkler Machenschaften. Dass sie mit dem Leben
davonkam, verdankte sie nur ihrer Vertrautheit mit
Feuerwaffen --- und dem glücklichen Umstand, einen
jungen Fotografen namens Frederick Garland kennen
gelernt zu haben.
Frederick hatte gemeinsam mit seiner Schwester das
Fotoatelier ihres Onkels geführt, doch so geschickt er mit
einer Kamera umzugehen wusste, von Geschäften
verstand er rein gar nichts. Der Betrieb stand kurz vor
dem Ruin, als Sally auftauchte --- allein und in
Lebensgefahr. Zum Dank für die Hilfe der Geschwister
kümmerte sie sich um das Geschäft. Und versiert im
Umgang mit Rechnungen und buchhalterischen Fragen
konnte sie den Konkurs der Firma
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