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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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sagte er
über den tosenden Applaus und das Rumpeln des
Flaschenzugs hinweg, »nicht wie sonst auf der anderen.
Brauchen Sie was aus Ihrer Garderobe?« Mackinnon
schüttelte den Kopf.
Kaum berührte der Vorhang den Bühnenboden,
wechselte die Beleuchtung und weißes Licht überflutete
die Szene. Der gemalte Prospekt eines eleganten Salons
wurde abgerollt. Die Männer aus den Kulissen machten
sich in Windeseile an die Arbeit, entfalteten einen großen
Samtvorhang und spannten ihn auf, stellten auf der
Bühne einen zierlichen Tisch bereit, der für seine Größe
merkwürdig schwer schien, und rollten einen prächtigen
orientalischen Teppich aus. Jim sprang vor, um einen
Zipfel des Teppichs zu glätten, dann hielt er den
Samtvorhang, den ein anderer Bühnenarbeiter mit einem
Gewicht befestigte. Das Ganze dauerte nicht mehr als
fünfzehn Sekunden. Der Inspizient gab den Beleuchtern
ein Zeichen. Diese setzten neue Gelatinescheiben vor die
Gaslichtlampen und drosselten die Gaszufuhr, so dass die
Bühne in einem geheimnisvollen rosa Licht erschien. Jim
eilte zu seinem Platz am Eisenrad, während sich
Mackinnon in den Kulissen aufstellte. Der Conferencier
kam zum Schluss seiner Überleitung, und der Dirigent im
Orchestergraben hob den Taktstock.
Ein Tusch, prasselnder Applaus vom Publikum, und Jim
drehte den Vorhang hoch. Mackinnon trat wie
verwandelt ins Scheinwerferlicht. Im Publikum wurde es
sogleich still, als er mit seiner Nummer begann.
Jim schaute ihm eine Weile zu. Jedes Mal war er aufs
Neue verblüfft, wie sich dieser im wirklichen Leben so
verhuscht und kränklich wirkende Mann auf der Bühne
plötzlich zu einer machtvollen Gestalt verwandeln
konnte. Die Stimme, die Augen, jede Bewegung seines
Körpers strahlten eine geheimnisvolle Kraft aus. Man
glaubte ohne weiteres, dass er über Scharen unsichtbarer
Geister gebot und dass die Verwandlungen, die er auf der
Bühne produzierte, das Werk von Dämonen waren... Jim
hatte ihm schon ein Dutzend Mal zugeschaut, und immer
wurde er aufs Neue von Schauder ergriffen.
Widerstrebend riss er sich los und glitt unter die Bühne.
Das war der kürzeste Weg von der einen Seite zur
anderen. Lautlos bewegte er sich über Balken und Seile,
vorbei an der Versenkung und an Bündeln von Röhren
entlang, bis er die andere Seite erreichte. Oben kam
wieder Applaus vom Publikum. Er machte sich klein,
schlüpfte durch eine schmale Tür in den Zuschauerraum
und von dort durch eine andere Tür in den
Treppenaufgang. Oben angekommen, wich er
augenblicklich in den Schatten zurück: Vor der Tür der
Loge, in der Mackinnons Verfolger Platz genommen
hatten, stand ein dritter Mann, ein finsterer Schlägertyp,
der offenbar den Korridor im Auge behalten sollte. Jim
überlegte rasch, dann trat er ins Gaslicht des plüschigen,
mit falschem Blattgold verzierten Korridors und winkte
den Mann heran. Der kam, misstrauisch blickend, näher
und hob arrogant den Kopf, als ihm Jim zuflüsterte: »Wir
haben Wind davon gekriegt, dass Mackinnon ein paar
Kumpel mitgebracht hat. Die werden versuchen, ihn hier
rauszuholen. Er macht gleich einen Trick, mit dem er vor
den Augen des Publikums verschwindet. Dann geht er
unter der Bühne durch und taucht am anderen Ende des
Zuschauerraums wieder auf. Dort warten seine Kumpel,
um ihn in eine Droschke zu verfrachten. Geh du runter
zum Eingang, ich flitze und sag dem Boss Bescheid. «
Toll, was man mit ein bisschen Frechheit erreicht, dachte
Jim, denn der Schläger nickte und machte sich davon.
Jim ging zur Logentür. Was er vorhatte, war riskant,
jeden Augenblick konnte jemand vorbeikommen. Aber er
hatte keine andere Wahl. Er kramte ein Bündel Drähte
aus seiner Hosentasche, hockte sich neben das
Schlüsselloch und stocherte mit einem Drahtende im
Schloss herum, bis sich etwas bewegte. Er zog den Draht
wieder heraus, gab ihm die passende Biegung, fingerte
ihn erneut ins Schloss und verriegelte die Logentür,
während drinnen gerade applaudiert wurde. Er hatte sich
gerade wieder aufgerichtet, als der Manager den Korridor
entlangkam.
»Was machen Sie hier, Taylor?«, fragte er in scharfem
Ton. »Eine Nachricht für die Herren in der Loge«,
antwortete Jim. »Schon erledigt, ich gehe wieder hinter
die Bühne. « »Es ist nicht Ihre Aufgabe, Nachrichten zu
überbringen. « »Auch dann nicht, wenn mich Mister
Mackinnon darum gebeten hat?«
Damit drehte sich Jim um und ging. Er stieg hinunter
durch die stoffbespannte Tür - wie weit mochte
Mackinnon wohl mit seinem
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