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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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Jahren hatte
Frederick mehrere Aufnahmen von Jim und noch viele
mehr von Sally gemacht; doch von ihm selbst gab es kein
einziges Foto. Er hatte umgeben von Kameras, Linsen,
fotografischen Platten und lichtempfindlichen
Emulsionen gelebt, aber niemand hatte jemals sein
lebhaftes, lachendes Gesicht fotografiert. Nicht einmal
eine Zeichnung gab es von ihm.
Schließlich sie selbst. Ihr Leben barg die größte Ironie.
Sie konnte es noch nicht in Worte fassen, wusste aber,
dass sie bald darüber sprechen musste.
Dann, an einem Tag Ende April, verkündete Charles
Bertram, er habe eine Überraschung für sie alle. Es war
ein Sonntag, das Wetter noch frisch, aber sonnig, als er
sie in seinem Einspänner nach Twickenham fuhr, ohne
ein Wort über das Ziel der Reise zu verlieren.
»Wenn wir erst einmal da sind, werdet ihr sofort sehen,
was es ist. « Es stellte sich als ein leeres Haus mit einem
großen, verwilderten Garten heraus. Am Gebäude selbst
blätterte zwar schon der Putz ab, aber alle Fenster waren
noch in Ordnung, und der ganze Bau zeichnete sich
durch angenehme Proportionen aus. Das Haus sei siebzig
Jahre alt, sagte Charles, sauber und trocken --- und
beherberge ein Gespenst.
»Der Besitzer ist ein reicher Bierbrauer«, erzählte er, als
er das Tor aufschloss. »Er wird es um keinen Preis los.
Wie er mir sagte, gehe eine Weiße Dame nachts im
ersten Stockwerk spazieren. Die sei zwar völlig harmlos,
aber der bloße Gedanke vergälle den Leuten schon das
Haus. Wenn ihr bitte hier eintreten wollt... « Er öffnete
die Flügeltüren zu einem sonnigen Zimmer, das auf den
Garten ging. Drinnen stand ein gedeckter Tisch mit
kaltem Fasanenbraten, Salat, Wein und Obst.
»Donnerwetter, Charlie!«, staunte Jim. »Das ist aber
eine Überraschung, alle Achtung. «
»Das ist spitze, Charles«, sagte Webster anerkennend.
»Ich habe meinen Diener vorausgeschickt«, erklärte
Charles. »Sally?«
Er bot ihr einen Stuhl an. Sie setzte sich. »Spukt es hier
wirklich?«
»Der Besitzer behauptet es wenigstens«, sagte Charles.
»Ich glaube, er hatte nicht mehr gehofft, das Haus noch
einmal zu vermieten. Aber schaut euch einmal an, wie
geräumig es hier ist. « Damit begann er, den Wein zu
entkorken.
Webster schaute in den Garten hinaus. »Ist das da unten
ein Obstgarten?«, wollte er wissen. »Da auf dem Gras
wäre genug Platz... « »... für Schienen und eine Kamera«,
ergänzte Charles. »Parallel zur Mauer, sehen Sie?«
Webster schaute in die Richtung, auf die Charles zeigte.
»Ja, das wäre ein guter Ort für Aufnahmen. Wir könnten
die Schienen völlig eben verlegen --- und die Sonne steht
auch richtig... « »Auch ein Glasdach wäre möglich«,
spann Charles den Faden weiter, »dann könnten wir bei
jedem Wetter Aufnahmen machen. Und hinter dem Stall
ist noch mehr Platz. Ich zeige es euch nach dem Essen.
Platz für ein richtiges Atelier und ein Labor dazu. Für die
Arbeiten brauchten wir allerdings einen ausgebildeten
Zimmermann. «
»Und wie steht's mit der Miete?«, fragte Sally. »Ich
habe die Zahlen hier. Es ist wirklich preiswert, der
Weißen Dame sei Dank. «
»Wahrscheinlich langweilt sie sich mächtig«, witzelte
Jim. »Wir werden sie einstellen. Sie könnte ja die
Blitzlampe halten. « Nach dem Essen sagte Charles:
»Sally, ich habe etwas für Sie. Vielleicht ist es nicht der
richtige Augenblick, aber hier ist es. Ich habe es neulich
gefunden und sofort an Sie gedacht. « Er holte einen
Umschlag aus seiner Tasche.
»Ich habe es vor drei oder vier Monaten gemacht«,
erläuterte er. »Wir wollten eine neue Linse für die
Voigtländerkamera ausprobieren, und da sonst niemand
da war, habe ich Frederick gebeten... « Sie öffnete den
Umschlag --- und da war er.
Es war ein Ganzporträt von gestochener Schärfe und mit
einem lebendigen Ausdruck wie ihn, von Webster
abgesehen, nur Charles einzufangen verstand. Frederick,
sprühend vor Leben --- es war eine wunderbare
Fotografie.
Vor Tränen konnte Sally nicht sprechen, aber sie
schlang ihre Arme um Charles' Hals und gab ihm einen
Kuss.
»Danke«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte, »das
ist wirklich das schönste Geschenk... «
Nun, vielleicht nicht das schönste, dachte sie eine Weile
später, als sie allein im Obstgarten war. Das schönste war
unmöglich. Tote konnten nicht wieder ins Leben
zurückgebracht werden, auch Spiritisten vermochten das
nicht. Alles das war ein Geheimnis, an das man lieber
nicht rührte. Besser hielt man sich an reale Wunderdinge
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