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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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schmalen Gang entlang.
Nach vier, fünf Schritten kamen sie zu einer Kabine, die
gerade Raum für eine Person bot und in der sich ein
Drehstuhl und davor eine ganze Batterie von Schaltern
und Hebeln befanden. Über dem Stuhl brannte eine
elektrische Lampe. Zu beiden Seiten der Kabine ragten
Metallschienen ins Dunkle, wo Sally Geschossmunition
in Gürteln aufgerollt glänzen sah. Die Temperatur hier
drinnen war hoch. »Wie kann der Schütze nach draußen
schauen?«, fragte sie. Er betätigte einen Griff, den sie
bisher nicht bemerkt hatte. Aus der Decke senkte sich
leise ein Rohr mit einem stoffbezogenen Visier. Ȇber
eine Spiegelvorrichtung kann er aus der
Schornsteinattrappe oben aus dem Dach schauen. Durch
Drehen des Rohres kann er den gesamten Gesichtskreis
von dreihundertsechzig Grad einsehen. Die Erfindung
stammt übrigens von mir. « »Dann ist das Gewehr
schussbereit?«
»Oh ja. Wir wollen es morgen auf dem Schießgelände
einem Besucher aus Preußen vorführen. Sie können mich
begleiten. Ich kann Ihnen versprechen, dass Sie so etwas
in Ihrem Leben noch nicht gesehen haben. Aber ich
möchte Ihnen jetzt das Dampfleitungssystem zeigen ---
um diese Kabine herum sind rund neun Kilometer
Leitungen verlegt! Der Schütze verständigt sich mit dem
Maschinisten über einen Signaltelegrafen und legt die
Schussfolgen mit diesen Hebeln fest, sehen Sie? Die
Übertragung zu den Läufen erfolgt über einen JacquardMechanismus. Nach den telegrafischen Anweisungen
wählt der Schütze die entsprechende Schussfolge aus,
wobei er die Auswahl zwischen sechsunddreißig
Möglichkeiten hat. Sally, seit Anfang der Welt hat es
keine solche Waffe gegeben. Es ist der eleganteste
Mechanismus, der je konstruiert worden ist... « Sally
stand eine Weile da, in der Hitze schwamm es ihr vor den
Augen.
»Ist die Munition scharf?«, zwang sie sich zu fragen.
»Ja. Alles ist bereit. Schussbereit!«
Eine Hand auf der Lehne des Drehstuhls stand er
triumphierend ihr gegenüber auf dem einzigen freien
Platz, der in der Kabine noch vorhanden war. Sie hielt
sich am Anfang des schmalen Gangs, und plötzlich
spürte sie eine große kalte Klarheit in sich aufsteigen, ein
erleichterndes Gefühl der Freiheit. Das war der
Augenblick, auf den sie gewartet hatte.
Sie griff in ihre Handtasche, holte ihren kleinen
belgischen Revolver heraus und spannte den Hahn mit
dem Daumen. Bellmann hörte das Klicken. Er schaute
hinab auf ihre Hand und dann wieder hinauf. Sie blickte
ihm gerade in die Augen. Freds Gesicht im Regen; seine
nackten Arme im Kerzenschein; seine lachenden grünen
Augen...
»Sie haben Frederick Garland umgebracht«, sagte sie
zum zweiten Mal an diesem Abend.
Bellmann öffnete den Mund, doch sie hob den Revolver
etwas höher und fuhr fort:
»Und ich habe ihn geliebt. Wie konnten Sie bloß
denken, ihn bei mir zu ersetzen? Wie lange ich auch lebe,
nichts könnte ihn ersetzen. Er war mutig und gut, und er
glaubte an das Gute im Menschen, Mr. Bellmann. Er
verstand Dinge, die Sie nie verstehen werden, wie zum
Beispiel Anständigkeit, demokratische Gesinnung,
Wahrhaftigkeit und Ehre. Alles, was Sie mir vorhin in
Ihrem Arbeitszimmer gesagt haben, hat mich verstört; ich
fühlte mich krank und kalt, weil ich für einen Augenblick
dachte, Sie könnten Recht haben --- mit Ihrer
Einschätzung der Menschen und der Welt. Doch das ist
falsch, Sie irren sich. Sie mögen zwar stark, listig und
einflussreich sein, Sie mögen glauben zu wissen, wie die
Welt funktioniert, doch Sie irren sich, weil Sie nicht
verstehen, was Anstand und Liebe ist, weil Sie einen
Menschen wie Frederick Garland nicht verstehen... «
Seine Augen blitzten sie an, doch sie nahm ihre ganze
Kraft zusammen und hielt seinem Drohstarren stand.
»Ganz gleich, wie mächtig Sie sind«, fuhr sie fort,
»selbst wenn Sie die ganze Welt beherrschen und überall
Schulen, Krankenhäuser und Sportplätze einrichten
würden, weil die Menschen angeblich danach verlangen,
selbst wenn Gesundheit und Wohlstand für alle erreicht
wären und in jeder großen Stadt auf der Erde ein
Standbild von Ihnen stehen würde, Sie hätten immer
noch nicht Recht, denn die Welt, die Sie schaffen wollen,
ist auf Angst, Täuschung, Mord und Lüge gebaut ---«
Er tat einen Schritt vorwärts und erhob seine große
Faust. Sie wich nicht zurück, sondern hob den Revolver
nur etwas höher. »Bleiben Sie stehen!«, rief sie, jetzt mit
zittriger Stimme. Sie musste auch die andere Hand
benutzen, um die Waffe ruhig zu halten. »Ich
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