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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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blondes, von Staub und Schmutz
bedecktes Haar lag zu seinen Füßen. Sie war völlig
regungslos.
Dann sah er, dass sich ihre Augenlider bewegten, und
im gleichen Augenblick fand er an ihrem Handgelenk
einen gleichmäßig schlagenden Puls.
»Sally!«, sagte er und strich ihr mit der anderen Hand
die Strähnen aus der Stirn. Er beugte sich tief zu ihr
hinunter, sein Gesicht ganz nah an ihrem. »Sally«,
wiederholte er sanft, »komm, altes Mädchen, es ist alles
gut --- wir holen dich hier raus --- komm, daheim gibt es
viel für uns zu tun... «
»Jim?«, flüsterte sie. Sie schlug die Augen auf, schloss
sie aber wegen des grellen Lichts gleich wieder. Doch sie
hatte ihn gesehen und seine Stimme gehört, und sie
drückte seine Hand. »Du verrückte Kuh«, flüsterte Jim
zurück --- und verlor das Bewusstsein.
DER OBSTGARTEN
    Dass Sally noch am Leben war, verdankte sie allein dem
Umstand, dass sie in dem schmalen Gang gestanden und
Bellmann die Tür am Ende des Wagens hatte offen
stehen lassen. Die Druckwelle der ersten Explosion hatte
sie nach draußen geschleudert, und als dann der ganze
Munitionsvorrat in die Luft ging und mit ihm der
Dampfkessel, wie sie es vorhergesehen hatte, war sie
schon außer Reichweite.
    Bellmann war auf der Stelle tot; was von ihm übrig
geblieben war, fand man erst am anderen Morgen.
Sie war in einer schlimmen seelischen Verfassung, aber,
abgesehen von ein paar Blutergüssen und einer
verstauchten Hand, unverletzt. Alistair Mackinnon
telegrafierte Charles Bertram, der noch am gleichen Tag
nach Barrow kam. Er veranlasste, dass Jim wieder in die
Obhut seines Arztes kam, um das gebrochene Bein neu
einzurenken. Außerdem fand er einen Arzt für Sally und
kümmerte sich um die Untersuchung des Unfalls.
Denn als solcher wurde das Geschehen in den NorthStar-Werken angesehen. Nach den Darstellungen in der
Presse hatte Mr. Bellmann, der Fabrikbesitzer, mit einem
Gast gerade eine Besichtigungstour in seinen Betrieb
gemacht, als ein Fehler in einem Sicherheitsventil zu
einem gefährlichen Druckanstieg in einem Dampfkessel
geführt habe. Von Munition war keine Rede, auch nicht
davon, was in der Fabrik hergestellt wurde. Es klang so,
als handele es sich um einen gewöhnlichen
Industrieunfall --- allerdings um einen tragischen, denn
ein bekannter Konzernherr und Wohltäter war dabei ums
Leben gekommen. Für Axel Bellmann wurde ein
Gedenkgottesdienst in der Kirche der Pfarrei abgehalten.
Sally kehrte nach London zurück.
Nach und nach nahm sie wieder ihr altes Leben auf.
Zuerst einmal mussten die Geschäfte geordnet werden.
Ihre Akten lagen sicher bei Mr. Temple, aber Garland &
Lockhart, diese prosperierende Firma, die ihr so am
Herzen gelegen hatte, lag in Schutt und Asche. Zwar
hatte sie den Versicherungsvertrag erst wenige Monate
zuvor erneuert, so dass das Grundkapital ohne große
Schwierigkeiten wieder hereinkam, aber sie wusste auch,
dass eine Firma mehr war als physische
Vermögenswerte. Sie fand schließlich ein
heruntergekommenes Atelier in Hammersmith und
brachte die Belegschaft dazu, sich mit Eifer an die Arbeit
zu machen. Anfangs half sie mit ihrem Geld bei den
Löhnen aus, bis genug Umsatz hereinkam, um die Leute
anständig zu bezahlen. Sie schaltete in allen großen
Zeitungen Anzeigen, in denen die Ausführung
anspruchsvoller und auch ausgefallener
Porträtaufnahmen binnen einer Woche offeriert wurde.
Sie kaufte eine neue Atelierkamera, ließ neues
Firmenbriefpapier drucken und nahm neue Bestellungen
an. Sie stand den Leuten auf den Hacken, nahm Kredite
auf, stellte weiteres Personal ein und brachte alle zum
Rasen --- aber am Ende klappte es. Es war noch kein
Monat vergangen, da schnellten die Umsatzzahlen in die
Höhe. Sally hoffte, dass die erfreuliche Entwicklung
anhalten werde; ihr eigenes Kapital war unterdessen
zusammengeschrumpft.
Schlimmer als der Verlust des Geschäftes war der
Schlag, den Webster hatte einstecken müssen. Alles, was
er bisher erreicht hatte, sein ganzes Lebenswerk auf dem
Gebiet der Fotografie, all die großartigen, unersetzlichen
Bilder, die er auf Glas und Papier gebannt hatte, waren
unwiederbringlich verloren. Es war, als ob er sechzig
Jahre gelebt und nichts geschaffen hätte.
Sally sah hilflos zu, wie er mechanisch seine gewohnte
Arbeit verrichtete --- um dann abends beim Whisky Trost
zu suchen. Sie wusste, dass er hart im Nehmen war, aber
sie wusste auch, dass er, der selbst kinderlos war,
Frederick wie einen Sohn geliebt hatte. Was der
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