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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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schüttete den Inhalt aus. Eine Flut
schimmernder Goldmünzen bedeckte die
Schreibunterlage. Er zählte rasch den Gegenwert von
dreitausendzweihundertsiebzig Pfund aus, schüttete die
Münzen in die Säckchen zurück und schob sie Sally hin.
»Das ist für Sie«, sagte er.
Sie erhob sich. Die Würfel waren gefallen; es gab kein
Zurück mehr. Sie nahm das Gold an sich und reichte es
Mackinnon. Seine Hände zitterten stärker als ihre.
»Bitte«, sagte sie zu ihm, »seien Sie so gut und bringen
Sie das Geld Miss Susan Walsh in der Benfleet Avenue
Nummer drei in Croydon. Können Sie sich das merken?«
Er wiederholte Name und Adresse und sagte dann
hilflos: »Aber Jim --- er hat mich dazu gebracht, hierher
zu kommen --- Ich kann doch nicht... «
»Genug«, versetzte sie. »Das ist jetzt vorbei. Ich werde
Mr. Bellmann heiraten. Also gehen Sie bitte. Sagen Sie
Jim... Nein, sagen Sie ihm nichts. Gehen Sie jetzt. «
Er sah aus wie ein Kind, das seine Eltern verloren hatte.
Nach einem letzten Blick auf Bellmann nickte er
schwach und ging. Kaum hatte sich die Tür hinter
Mackinnon geschlossen, sank Sally wieder in ihren
Sessel zurück und sogleich war Bellmann aufgesprungen
und kniete neben ihr. Es war wie ein Dammbruch. Er
nahm ihre Hände, und sie hatte das Gefühl, als ob die
Energie, von der er vorhin gesprochen hatte, ihre immer
neuen Verwandlungen, in ihm schließlich ihre Apotheose
gefunden hätte. Er küsste immer wieder ihre Hände, und
seine Küsse hatten das elektrische Knistern der Drähte
neben der Eisenbahnlinie, an der sie am Nachmittag bei
ihrem Weg durch das Tal zur Villa entlanggewandert
war. Aber jetzt war es getan. Sie hatte es fast geschafft.
»Ich bin müde«, sagte sie. »Ich muss mich ausruhen.
Aber bevor ich mich schlafen lege, möchte ich das
Dampfmaschinengewehr sehen. Wollen Sie mir zeigen,
wie es aussieht? Es wäre doch schade, die weite Reise
gemacht zu haben, ohne es gesehen zu haben. « »Aber
selbstverständlich«, sagte er, stand auf und läutete nach
dem Personal. »Es ist die richtige Stunde für eine
Besichtigung. Ich liebe die Fabrik bei Nacht. Wir machen
große Fortschritte beim Einsatz elektrischen Lichts. Was
wissen Sie übrigens über Feuerwaffen, Verehrteste?«
Sie stand auf und hob ihre schwere Handtasche auf. Es
ging jetzt recht gut, solange sie ihre Stimme beherrschte
und nicht zitterte.
»Ich verstehe tatsächlich eine ganze Menge davon. Aber
ich bin immer bereit, noch mehr zu lernen. «
Er lachte glücklich, als sie zur Eingangstür gingen.
Der Wachmann ließ Mackinnon aus dem Tor und
schloss es wieder hinter ihm. Halb rannte Mackinnon,
halb stolperte er durch den peitschenden Regen zur
Droschke, wo Jim mit dem Flachmann vor der Brust und
halb fiebernd vor Schmerzen auf ihn gewartet hatte. Jim
konnte es zuerst nicht glauben. Mackinnon musste es
zweimal erzählen und dann die Geldsäckchen schütteln,
damit Jim die Goldmünzen klimpern hören konnte.
»Diesen Mann heiraten?«, sagte Jim ungläubig. »Hat sie
das wirklich gesagt?«
»Ja --- es war so etwas wie ein Handel --- sie hat sich
selbst für das Gold verkauft! Und ich musste ihr
versprechen, es einer Dame in Croydon zu bringen ---«
»Ihrer Klientin«, sagte Jim. »Die Frau, die ihr Geld
wegen Sallys Anlagetipp verloren hat. Sie hatte ihr
geraten, es in Bellmanns Firma zu investieren... Oh du
Rindvieh, wie konntest du nur zulassen, dass sie so etwas
tut?«
»Ich? Ich konnte nicht anders, Jim. Sie wissen doch, wie
stark sie ist ---« »Ach wo, ich meinte doch gar nicht Sie.
Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Sie hatten den
Schneid, da hineinzugehen. Wir sind jetzt quitt. Ich
meinte natürlich mich selbst. Oh Gott, dieses verdammte
Bein, ich weiß gar nicht mehr, was ich rede. Ich mache
mir große Sorgen, Mackinnon. Ich glaube, sie hat etwas
vor... Wenn ich einen Stock hätte, vielleicht könnte
ich...«
Er stöhnte wieder und wiegte sich im Schmerz hin und
her. Die mittlerweile fast leere Flasche wanderte
nochmals zitternd zu seinen Lippen hinauf und fiel dann
scheppernd auf den Droschkenboden. Das Pferd
schüttelte sich in seinem Geschirr. Draußen goss es wie
aus Eimern. Mackinnon wischte mit dem Ärmel den
Schweiß von Jims fiebernder Stirn, doch Jim merkte es
gar nicht. »Helfen Sie mir beim Aussteigen«, murmelte
er. »Sie führt irgendwas im Schilde --- mir kommt das
nicht geheuer vor. Stützen Sie mich... «
Bellmann hielt mit einem Arm den Regenmantel
behutsam um Sallys Schultern und mit dem anderen
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