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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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den
Regenschirm über beider Köpfe. So eilten sie den
Kiesweg entlang zum hell erleuchteten Gebäude, wo das
Dampfmaschinengewehr stand. Er hatte angeordnet, die
gesamte Anlage zu illuminieren, und jedes Licht, das
eingeschaltet wurde, leuchtete in einem Ring aus
Feuchtigkeit und spritzenden Regentropfen auf.
Das Gebäude hieß Halle Nummer Eins. Wie sie schon
vom Talrand her gesehen hatte, war diese Halle von den
übrigen Gebäuden abgesetzt, deshalb mussten sie ein
Stück weit im peitschenden Regen durch offenes Gelände
gehen, ehe sie Schutz vor der Nässe fanden. Ein
Wachman kündigte ihr Kommen an und schob das große,
auf Rollen laufende Tor auf. Ein Schwall aus Wärme und
Licht empfing sie.
»Schicken Sie die Arbeiter für eine halbe Stunde weg«,
befahl Bellmann dem Schichtleiter, der ihnen
entgegenkam. »Sie können in die Kantine gehen und eine
Extrapause machen. Ich werde mich selbst um den
Dampfkessel kümmern. Ich möchte für meinen Gast die
Halle leer haben. «
Sally stand da und beobachtete, wie die Arbeiter ihre
Werkzeuge weglegten und die Halle verließen. Manche
schauten sie verwundert an, andere hatten weder für sie
noch für Bellmann Augen. Gegenüber dem
Fabrikbesitzer blieben sie stumm und distanziert. Sally
wusste anfangs nicht, wie sie diese Haltung deuten sollte,
bis ihr aufging, dass es Furcht war.
Nachdem der letzte Arbeiter gegangen und das
Eingangstor wieder zugeschoben war, half ihr Bellmann
auf eine Plattform, von wo man einen Blick auf die ganze
Halle hatte. Mit ausladender Geste sagte er: »Das ist
mein Reich, Sally. «
Im Innern sah es wie in einem Lokomotivschuppen aus.
Auf drei parallel verlaufenden Gleisen standen drei
Maschinen, die wie im Bau befindliche schwere
Güterwagen aussahen. Von dem am weitesten entfernt
Stehenden war nur das Untergestell zu sehen, aber Sally
erkannte den massiven Eisenrahmen für die Feuerbüchse,
den Dampfkessel und die, wie sie vermutete,
Schussvorrichtung. Die Maschine in der Mitte war bis
auf das Herzstück fertig: ein Gewirr aus Leitungen, zu
kompliziert, um mit bloßem Auge durchschaut zu
werden, daneben, an einem Kran auf Laufschienen
aufgehängt, ein Teilstück des Dampfkessels.
Die dritte Maschine war fertig. Sie stand auf dem Gleis
vor ihnen, hell erleuchtet und mit einem Feuerschein im
Innern, den Sally durch ein Fenster an einem Ende ---
wie bei einem Dienstwagen --- erkennen konnte. Das
Ganze sah wie ein ganz gewöhnlicher Güterwagen aus:
ein geschlossener Holzaufbau mit einem Blechdach. In
der Mitte des Daches befand sich ein kleiner gedrungener
Schornstein mit einer Haube darüber. Das einzig
Merkwürdige waren die vielen kleinen Löcher an den
Seiten, von denen Henry Waterman gegenüber Frederick
gesprochen hatte: Reihen kleiner dunkler Flecke, die von
der Plattform wie Nieten oder Nagelköpfe aussahen.
»Möchten Sie es gern aus der Nähe sehen?«, fragte er.
»Wenn Sie etwas für Feuerwaffen übrig haben, wird Sie
das interessieren. Wir müssen auf den Dampfdruck Acht
geben, sonst wird der Schichtleiter böse auf uns. Heute
Nacht soll noch der automatische Kesselrost getestet
werden... «
Er führte sie zum einen Ende des Güterwagens, kletterte
hinauf und öffnete die Tür. Dann beugte er sich zu ihr
hinunter und zog sie zu sich herauf. Gemeinsam traten
sie in das Abteil. Es war wie ein Lokomotivführerstand
in Kleinformat, nur dass die Feuerbüchse hier an der
Seite war. Da der Dampf, den dieser Kessel erzeugte,
keine Kolben in Zylindern bewegte, sondern zu
verschiedenen Sektionen innerhalb des Wagens geführt
wurde, waren auch die Armaturen anders: Auf gravierten
Plättchen standen Bezeichnungen wie Kammer Eins und
Kammer Zwei, Backbord und Steuerbord. Dort, wo sich
bei einer normalen Lokomotive der Dampfkessel befand,
führte ein schmaler Gang ins Zentrum der Maschine.
Eine elektrische Lampe sorgte für die nötige
Beleuchtung. »Wo ist denn der Dampfkessel?«, fragte
Sally. »Ah! Der Kessel ist das Geheimnis des Ganzen«,
sagte er. »Sehr verschieden von der üblichen
Konstruktionsweise und ein Meisterstück in seiner Art.
Er ist sehr viel flacher und kompakter, damit Platz für die
Gewehrläufe bleibt. Nirgendwo sonst als hier konnte er
entwickelt und gebaut werden. «
»Sitzt der Schütze hier im Führerstand?«, fragte Sally.
Sie war überrascht, wie fest ihre Stimme jetzt klang. »Oh
nein. Dort in der Mitte. Kommen Sie... « Trotz seiner
kräftigen Statur bewegte er sich geschmeidig und
behutsam den vor ihr liegenden
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