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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden
Autoren: Philip Pullman
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Verlust
seines fotografischen Gesamtwerks für ihn bedeutete,
konnte sie nur ahnen.
Das größte Problem der neuen Firma waren die
Räumlichkeiten. Das Atelier in Hammersmith war zu
klein für alles, was über schlichte Porträtaufnahmen
hinausging. Außerdem war es keine gute Lage. Das
nächste Lokal, das sie für den Laden finden konnte, war
in einem schmuddeligen Gebäude drei Straßen weiter.
Die Verteilung auf zwei Orte brachte für alle Beteiligten
zusätzliche Arbeit. Wenn sie aber nach etwas Besserem
Ausschau halten und dann wieder umziehen wollte, hätte
das wieder Zeit bedeutet, in der kein Geld hereinkam.
Tagsüber schob sie das Problem beiseite, aber nachts
kam es wieder. Im Dunkeln spürte sie einen anderen an
ihrer Seite: Sie lag wach, weinte und sprach zu ihrem
unsichtbaren Geliebten, der sie nicht verlassen wollte.
Eines Morgens nahm sie den Frühzug nach Croydon
und klingelte bei Miss Susan Walsh.
Die alte Dame hatte gerade eine Nachhilfeschülerin, als
Sally vor der Tür stand. Sie war so erschrocken über
Sallys Gesicht, dass sie das Mädchen nach Hause
schickte und Sally hereinbat. Sie wies ihr den Platz am
Kamin an und gab ihr ein Glas Sherry zu trinken. Müde,
aber dankbar reichte Sally ihr einen Scheck über den
Betrag, den sie von Bellmann zurückerhalten hatte --- die
Goldsäckchen hatte sie Mackinnon ja nur vorsichtshalber
anvertraut. Dann brach sie in Tränen aus --- was sie
sogleich über sich selbst wütend machte. »Mein armes
Kind!«, sagte Miss Walsh. »Was um alles in der Welt ist
denn bloß passiert?«
Eine Stunde später kannte sie die ganze Geschichte. Am
Ende schüttelte Miss Walsh verwundert den Kopf. Dann
nahm sie den Scheck und legte ihn Sally auf den Schoß.
»Ich möchte, dass Sie das Geld in Ihre Firma
investieren«, sagte sie. »Aber ---«
Mit einem stählernen Blick verbat ihr die alte Dame
jede Widerrede.
»Der letzte Rat, den Sie mir in Anlagefragen gegeben
haben, hat sich als schlecht erwiesen. Das werden Sie ja
wohl zugeben. Diesmal, Miss Lockhart, werde ich so mit
meinem Geld verfahren, wie ich es für richtig halte.
Meiner Auffassung nach ist eine Investition bei Garland
& Lockhart sicherer als bei irgendeiner
Schifffahrtsgesellschaft. « Darin hatte sie zweifellos
Recht. Wenn die Emanzipation der Frau überhaupt einen
Sinn haben sollte, so fuhr sie fort, dann den, jeder Frau
das Recht zu geben, einer anderen Frau angemessen bei
deren Arbeit zu helfen. Und damit wolle sie nichts mehr
über diese Angelegenheit hören. Dann teilten die beiden
Frauen ein aus Suppe und Käse bestehendes Mittagessen
und plauderten dabei über das Studium in Cambridge. Sie
trennten sich als die besten Freundinnen.
Jim musste drei Wochen lang das Bett hüten. Sein Bein
hatte bei der Suche nach Sally so sehr gelitten, dass er
nach Aussage des Arztes wohl ein Leben lang ein
leichtes Hinken behalten würde. Er verbrachte seine Zeit
(in einem unbenutzten Zimmer in Trembler Molloys
Haus in Islington) mit dem Lesen von
Sensationsromanen, verlor aber über den dürftig
konstruierten Geschichten bald die Geduld, fing selbst
an, eine Geschichte zu schreiben, und zerriss sie wieder
in einem Anfall von Wut. Dann machte er sich ans
Ausschneiden und Zusammenkleben eines
Papierfigurentheaters, das er sich von Sally hatte
besorgen lassen, probierte mit den Figuren ein Stück aus
und warf auch das bald wieder in die Ecke. Dann schrieb
er sechs Briefe an Lady Mary, die aber alle im
Papierkorb landeten. Er wälzte sich im Bett hin und her,
schwitzte vor Schmerzen im Bein, warf die Decken weg
und bedachte seine missliche Lage und den allgemeinen
Zustand der Welt mit immer neuen Flüchen, deren
Derbheit selbst einen Bierkutscher verblüfft hätte. Zwei
Wochen nach ihrer Rückkehr nach London war er dabei,
einen Brief an Lady Mary abzuschicken, als er Neues
von Mackinnon hörte.
Er habe sich entschlossen, so schrieb ihm der
Zauberkünstler, mit seiner Frau nach Amerika zu gehen.
Die Verhältnisse drüben seien großzügiger und günstiger
für seine Kunst als alles, was ihm das britische Varietee
bieten könne. Ferner hoffe er seinen Pflichten als
Ehemann dort ohne die Hindernisse nachkommen zu
können, die ihm bisher im Weg gelegen hätten - so
beliebte er es auszudrücken. Jim zeigte den Brief Sally.
»Ich frage mich, wie lange das gut gehen wird«,
bemerkte er säuerlich. »Na ja, am Ende war Freund
Mackinnon ja ganz in Ordnung. Er hat sich mächtig ins
Zeug gelegt und mitgeholfen, dich aus den
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