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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers
Autoren: Gene Wolfe
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gedrängt, die Töpfer zu liegen kamen. Selten ging ich als Knabe allein so weit, oder auch nur halb so weit.
    Wir waren immer zu dritt – Drotte, Roche und ich. Später auch Eata, der nächstälteste von den Lehrlingen. Keiner von uns kam bei den Folterern zur Welt, denn das ist nie so. Angeblich waren früher einmal Männer und Frauen in der Zunft, und die Kinder, die sie bekamen, erlernten das Handwerk von ihren Eltern, wie es heute bei den Lampenmachern, Goldschmieden und vielen anderen Gilden der Fall ist. Aber als Ymar der fast Gerechte sah, wie grausam die Frauen waren und wie oft sie die von ihm erlassenen Strafen übertrieben, befahl er, daß es hinfort bei den Folterern keine Frauen mehr geben dürfte.
    Seit dieser Zeit werden unsere Reihen einzig durch die Kinder jener ergänzt, die uns in die Hände fallen. Es ragt in unserem Matachin-Turm ein gewisser Eisenstab in Hüfthöhe aus der Wand. Knaben, die noch so klein sind, daß sie sich aufrecht darunterstellen können, finden Aufnahme an Kindes statt; kommt eine Hochschwangere zu uns, eröffnen wir ihren Leib und bringen den Säugling, falls er atmet und ein Knabe ist, zu einer Amme. Mädchen werden den Hexen übergeben. So ist es seit Ymars Zeit gewesen, und diese längst vergessene Zeit liegt aberhundert Jahre zurück.
    Also kennt keiner von uns seine Abstammung. Jeder möchte ein Beglückter sein, wenn er könnte, und tatsächlich werden uns viele Menschen aus hohen Häusern anvertraut. Als Knabe versuchte jeder von uns, sich darüber ein eigenes Bild zu machen und die älteren Brüder unter den Gesellen auszuhorchen, aber diese sagten uns, durch das eigene Schicksal verhärtet, wenig. In dem Jahr, von dem ich schreibe, malte Eata das Wappen eines großen Geschlechts aus dem Norden an die Decke über seinem Bett, hielt er sich doch für einen Sproß dieser Familie.
    Was mich anging, so hatte ich bereits das über der Tür eines bestimmten Mausoleums angebrachte Bronzerelief als das meinige angenommen. Es bestand aus einer aufschießenden Wasserfontäne, einem fliegenden Schiff und einer Rose darunter. Die Tür selbst war vor langer Zeit aufgebrochen worden; zwei leere Särge lagen auf dem Boden. Drei weitere, die zu schwer zum Verrücken und noch unbeschädigt waren, warteten auf Gestellen entlang der Wand. Weder die geschlossenen noch die offenen machten den Ort für mich so anziehend, obschon ich mich manchmal auf den Resten der weichen, dumpfen Lederpolsterung zur Ruhe legte. Eigentlich war es wegen der Enge des Raumes, der dicken Mauern aus Großsteinen und des einzigen schmalen Fensters mit seinem einzelnen Gitterstab, zusammen mit der treulosen Tür (so wuchtig und gediegen), die für alle Zeiten offenstand.
    Durch Fenster und Tür konnte ich unbemerkt das Gedeihen der Bäume, Sträucher und Wiesen draußen beobachten. Hänfling und Hase, die flohen, wenn ich näherkam, konnten mich weder sehen noch wittern. Ich verfolgte, wie die Nebelkrähe zwei Ellen über meiner Nase ihr Nest baute und ihre Jungen aufzog. Ich sah den Fuchs mit erhobener Lunte vorüberschleichen; und einmal jenen Riesenfuchs, der größer als die größten Hunde ist und von den Menschen Mähnenwolf genannt wird, als er in der Dämmerung auf geheimnisvoller Fährte von den Ruinen im Süden heranschnürte. Der Caracara erlegte Vipern für mich, und der Falke schwang sich elegant vom Wipfel einer Pinie in den Wind.
    Ein Augenblick reicht aus, um diese Dinge zu schildern, nach denen ich so lange Ausschau gehalten habe. Die Dekaden eines Saros' wären zu kurz zum Niederschreiben all dessen, was sie dem zerlumpten Lehrburschen, der ich gewesen bin, bedeutet haben. Zwei Gedanken (fast Träume) packten mich und ließen diese Dinge unendlich kostbar erscheinen. Der erste war, daß in absehbarer Zeit die Zeit selbst aufhören würde zu sein ... die bunten Tage, seit alters aneinandergereiht wie Glieder einer Zauberkette, kämen zu einem Ende, und die trübe Sonne würde erlöschen. Der zweite war, daß es irgendwo ein wunderbares Licht gäbe – das ich mir einmal als Kerze vorstellte, ein andermal als Fackel –, welches alle Dinge, auf die es fiele, zum Leben erweckte, so daß einem von einem Busch gepflückten Blatt dünne Beinchen und zuckende Fühler entwüchsen und ein knorriger dürrer Ast schwarze Augen aufschlüge und auf einen Baum hinaufkletterte.
    Manchmal jedoch, insbesondere in den trägen Mittagsstunden, gab es wenig zu sehen. Dann wandte ich mich wieder dem Wappenbild
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