Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
bückte, um ihn aufzuheben, bemerkte ich, daß die Münze noch in meiner Hand lag, also schob ich sie in die Tasche.
    Wir glauben, daß wir Symbole erfinden. In Wirklichkeit erfinden sie uns; wir sind ihre Geschöpfe, durch ihre scharfen, klar umrissenen Ränder geformt. Wenn Soldaten den Fahneneid leisten, erhalten sie eine Münze, einen Asimi mit dem Abbild des Autarchen. Indem sie diese Münze annehmen, bürden sie sich die besonderen Pflichten und Lasten des Militärwesens auf – sind von nun an Soldaten, obwohl sie vielleicht keine Ahnung vom Umgang mit Waffen haben. Damals habe ich das noch nicht gewußt, aber es ist ein schwerer Fehler zu glauben, man müßte davon wissen, um davon beeinflußt zu werden; wer das glaubt, ist zutiefst abergläubisch. Nur der Möchtegern-Zauberer hat Vertrauen in die Wirksamkeit reinen Wissens; vernünftige Leute wissen, daß etwas von allein oder gar nicht passiert.
    Als ich die Münze einsteckte, wußte ich also nichts über die Lehren der Bewegung, die Vodalus anführte, hörte aber bald zur Genüge davon, denn sie waren in aller Munde. Mit ihm haßte ich die Autarchie, obschon ich keine Vorstellung hatte, was an ihre Stelle treten sollte. Mit ihm verabscheute ich die Beglückten, die sich nicht gegen den Autarchen erhoben, sondern ihre schönsten Töchter feierlich als Konkubinen an ihn banden. Mit ihm verwünschte ich das Volk, weil es keine Disziplin und keine gemeinsamen Ziele besaß. Von den Werten, die Meister Malrubius (der in meiner Kindheit Lehrmeister gewesen war) mich zu lehren versucht hatte, und die Meister Palaemon mir noch jetzt zu übermitteln bestrebt war, akzeptierte ich nur einen: Loyalität gegenüber meiner Zunft. Hierin verhielt ich mich ziemlich korrekt – es war meinem Gefühl nach durchaus möglich, Vodalus zu dienen und Folterer zu bleiben. Derart begann also die lange Reise, an deren Ende mir der Thron zufiel.

Severian
    Die Erinnerung ist bedrückend. Da ich von Folterern aufgezogen worden bin, habe ich meine Eltern nie gekannt. Ebensowenig kennen meine Mitbrüder die ihrigen. Von Zeit zu Zeit, besonders häufig aber in den langen Wintermonaten, ziehen lärmend Hungerleider vor die Leichenpforte und begehren Aufnahme in unsere altehrwürdige Zunft. Oft erquicken sie den Bruder Pförtner mit Schilderungen von Martern, die sie gern ausführen wollten, bekämen sie nur ein warmes Plätzchen und Essen dafür; gelegentlich schaffen sie als Arbeitsproben Tiere herbei.
    Alle werden sie abgewiesen. Die Tradition aus unserer Blütezeit, die der jetzigen Epoche des Niedergangs und den beiden davor vorangegangen ist und deren Name selbst den Gelehrten nicht mehr geläufig ist, verbietet das Anwerben von solchen. Sogar in der Zeit, über die ich schreibe, wo die Zunft auf zwei Meister und weniger als zwanzig Gesellen zusammengeschrumpft ist, werden diese Überlieferungen beherzigt.
    Ich kann mich an alles erinnern, seit ich denken kann. Meine früheste Erinnerung ist, daß ich im Alten Hof Kieselsteine aufschichtete. Dieser liegt südwestlich vom Hexenturm und ist vom Großen Platz abgetrennt. Die Ringmauer, die unsere Zunft mitverteidigen mußte, war schon damals in schlechtem Zustand und wies eine breite Lücke zwischen dem Roten Turm und dem Bären auf, wo ich immer über die herabgestürzten Platten aus unschmelzbarem, grauem Metall kletterte, um zu der an dieser Bergseite des Zitadellenhügels gelegenen Nekropolis hinabzuschauen.
    Älter geworden, bevorzugte ich diese als Spielgelände. Die gewundenen Wege wurden tagsüber patrouilliert, aber die Posten kümmerten sich hauptsächlich um die frischeren Gräber weiter unten und hatten, weil sie wußten, daß wir zu den Folterern gehörten, selten große Lust, uns aus unseren Verstecken in den Zypressenhainen zu vertreiben.
    Unsere Nekropolis gilt als die früheste Grabanlage in Nessus. Das ist sicherlich falsch, aber daß eine solche Meinung überhaupt existiert, beweist an sich schon ihr hohes Alter, obgleich die Autarchen hier nicht zur letzten Ruhe gebettet worden sind, selbst als die Zitadelle noch ihre Hochburg gewesen ist, und die großen Familien – damals wie heute – ihre hochwüchsigen Toten in Grüften auf eigenem Grund und Boden beerdigt haben. Jedoch zogen die Wappenträger und Optimaten die oberen Hanglagen nächst der Zitadellenmauer vor; und die ärmeren Bürgerlichen hatten ihren Platz darunter, bis zuletzt in den hintersten Ecken der Talsohle, gegen die den Gyoll säumenden Mietshäuser
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher