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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers
Autoren: Gene Wolfe
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über der Tür zu und überlegte, was ein Schiff, eine Rose und eine Fontäne mit mir zu tun hätten, oder betrachtete die bronzene Totenstatue, die ich gefunden, gesäubert und in einer Ecke aufgestellt hatte. Der Leichnam lag aufgebahrt, die großen Augenlider geschlossen. Im spärlichen Licht, das durchs Fensterchen drang, erforschte ich sein Gesicht und verglich es mit dem meinigen, wie es sich im polierten Metall spiegelte. Mit meiner geraden Nase, meinen tief sitzenden Augen und hageren Wangen sah ich ihm sehr ähnlich, und ich brannte darauf zu wissen, ob auch er dunkle Haare gehabt hatte.
    Im Winter suchte ich die Nekropolis selten auf, aber im Sommer kam ich gern in das geschändete Mausoleum oder an andere Stellen, um Beobachtungen zu machen oder ein kühles Plätzchen zum Ausruhen zu haben. Drotte, Roche und Eata kamen ebenfalls hierher, allerdings führte ich sie nie an diesen meinen bevorzugten Zufluchtsort; wie ich wußte, hatten sie eigene Verstecke. Wenn wir beisammen waren, krochen wir meist überhaupt nicht in Grüfte. Vielmehr bastelten wir uns Holzschwerter und kämpften damit gegeneinander oder bewarfen die Soldaten mit Pinienzapfen oder zeichneten ein Schachbrett in die Erde frischer Gräber und spielten Dame mit Steinen, Schnurstücken, Schneckenhäuschen und angeschwemmten Muschelschalen.
    Wir vergnügten uns auch in dem Labyrinth, das die Zitadelle darstellte, und badeten in der großen Zisterne unter dem Glockenturm. Dort war es sogar im Sommer kalt und dumpfig unter dem Dachgewölbe am runden Becken bodenlos tiefen, dunklen Wassers. Aber es war im Winter kaum schlimmer, und es hatte den unvergleichlichen Vorteil des Unerlaubten, so daß wir, den Reiz des Verbotenen auskostend, heimlich hinunterschlüpfen konnten, wenn man uns woanders wähnte, wobei wir unsere Fackeln erst entzündeten, nachdem wir das Bodengitter hinter uns geschlossen hatten. Wenn dann die Flammen vom brennenden Pech aufloderten, wie tanzten da unsere Schatten über die feuchten Mauern!
    Wie ich schon erwähnte, gingen wir daneben auch im Gyoll schwimmen, der sich wie eine große, träge Schlange durch Nessus windet. Sobald es warm wurde, zogen wir durch die Nekropolis dort hin – zuerst vorüber an den alten, vornehmen Ruhestätten nächst der Zitadellenmauer, dann durch die Prunkgräber der Optimaten und weiter durch den Steinwald gewöhnlicher Gedenktafeln (wobei wir uns höchst ehrerbietig gaben, wenn wir an den stämmigen, auf ihre Streitäxte gestützten Wächtern vorbeimußten). Und zuletzt dann durch die schlichten, blanken Hügel, unter denen die Armen bestattet waren, Hügel, die nach dem ersten Regen zu lehmigen Gruben zusammensackten.
    Am untersten Ende der Nekropolis befand sich das bereits geschilderte Eisentor. Durch dieses wurden die für den Töpferacker bestimmten Leichen getragen. Als wir dieses rostige Portal durchschritten, hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, wirklich außerhalb der Zitadelle zu sein – und damit unleugbar im Ungehorsam zu den Regeln, die unser Kommen und Gehen bestimmen sollten. Wir glaubten (oder gaben zu glauben vor), daß wir gefoltert würden, falls unsere älteren Brüder unsere Unfolgsamkeit entdeckten; in Wirklichkeit hätte uns nicht mehr als eine Prügelstrafe erwartet – derart ist die Güte der Folterer, die ich später noch mißbrauchen sollte.
    Größere Gefahr drohte uns von den Bewohnern der vielstöckigen Mietshäuser an der schmutzigen Straße, die wir entlangschritten. Manchmal glaube ich, die Zunft hat deswegen so lange überdauert, weil sie als Brennpunkt den Haß des Volkes auf sich vereint und ablenkt vom Autarchen, von den Beglückten, von der Armee und teilweise sogar von den bleichen Cacogens, die unsere Urth zuweilen von fernen Sternen besuchen.
    Die gleiche Aufmachung, die den Wächtern unsere Identität verriet, schien oft auch den Bewohnern der Mietshäuser Aufschluß über unseren Stand zu geben; gelegentlich wurden wir von den oberen Fenstern mit Spülicht begossen und von zornigem Raunen begleitet. Aber die Angst, die diesen Haß hervorbrachte, beschützte uns auch. Es kam zu keinen echten Ausschreitungen gegen uns, und wenn bekannt war, daß ein grausamer Wüterich oder bestechlicher Bürgersmann der Gnade der Zunft ausgeliefert worden war, rief man uns hin und wieder auch Empfehlungen zu, wie mit diesem zu verfahren sei – meist unzüchtige und oft unmögliche Vorschläge.
    Wo wir baden gingen, hatte der Gyoll vor Hunderten von Jahren seine
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