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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers
Autoren: Gene Wolfe
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natürlichen Ufer verloren. Hier war er ein zwei Ketten breites, von Steinmauern begrenztes Feld blauer Teichrosen. Stufen für anlegende Boote führten an verschiedenen Stellen zum Fluß hinab; an heißen Tagen war jede Treppe immer durch eine Horde von zehn bis fünfzehn schreienden Jugendlichen besetzt. Wir vier waren nicht so stark, diese Gruppen zu vertreiben, aber sie konnten uns nicht (oder wollten's zumindest nicht) den Zugang verwehren, obschon ein jeder dieser Haufen, zu dem wir uns gesellten, Drohungen ausstieß, wenn wir näherkamen, und uns verspottete, sobald wir in seiner Mitte weilten. Bald jedoch entfernten sich alle und überließen uns den Besitz bis zum nächsten Badetag.
    All dies wollte ich jetzt schildern, weil ich nach dem Tag, an dem ich Vodalus das Leben gerettet hatte, nie wieder diesen Ort aufsuchte. Drotte und Roche glaubten, der Grund dafür sei meine Angst, wieder ausgesperrt zu werden. Eata erriet es wohl – bevor sie das Mannsein richtig erreichen, haben Knaben oft eine fast weibliche Einsicht. Es war wegen der Teichrosen.
    Die Nekropolis war mir nie wie eine Stadt des Todes vorgekommen; ich weiß, ihre purpurroten Rosen (die andere Leute für so gräßlich halten) beherbergen aberhundert Tierchen und Vögel. Die Hinrichtungen, die ich so oft gesehen und selbst vollzogen habe, sind nichts weiter als ein Handwerk, ein Hinschlachten von Menschen, die größtenteils unschuldiger und wertloser als Vieh sind. Wenn ich an meinen eigenen Tod denke oder an den Tod eines Gefährten, der gütig zu mir gewesen ist, oder sogar an den Tod der Sonne, so kommt mir das Bild der Teichrose mit ihren glänzenden, hellen Blättern und azurblauen Blüten in den Sinn. Unterhalb der Blüten und Blätter erstreckt sich tief ins dunkle Wasser das schwarze Wurzelwerk, so fein und kräftig wie Haar.
    Als Jünglinge machten wir uns nichts aus diesen Pflanzen. Wir planschten und badeten zwischen ihnen, schoben sie beiseite und kümmerten uns nicht um sie. Ihr Duft entkräftete zum Teil den fauligen Geruch des Wassers. An dem Tag, an dem ich Vodalus retten sollte, tauchte ich unter das dichte Polster, wie ich es schon tausendmal getan hatte.
    Ich kam nicht wieder hoch. Irgendwie war ich in eine Stelle eingedrungen, wo die Wurzeln dicker waren, als ich es je erlebt hatte. Ich war gleichzeitig in hundert Netzen gefangen. Die Augen hatte ich offen, trotzdem konnte ich nichts sehen – nur das schwarze Wurzelgewirr. Ich schwamm und spürte, daß meine Arme und Beine sich zwischen den Millionen von feinen Ranken bewegten, nicht aber mein Körper. Ich packte sie büschelweise und riß sie auseinander, aber nachdem ich Handvoll um Handvoll zerrissen hatte, hing ich fest wie eh und je. Meine Lungen drängten in meinen Hals und würgten mich, als wollten sie sich explosionsartig nach außen ins Wasser stülpen. Der Drang zum Atmen, zum Einsaugen der dunklen, kahlen Flüssigkeit um mich herum war überwältigend groß.
    Ich wußte nicht mehr, in welcher Richtung die Oberfläche lag, und ich war mir des Wassers nicht mehr als Wasser bewußt. Alle Kraft war aus meinen Gliedern gewichen. Ich hatte keine Angst mehr, obschon der Tod nahe oder vielleicht sogar schon eingetreten war. Laut und höchst unangenehm klangen mir die Ohren, und allmählich bekam ich Visionen.
    Meister Malrubius, der vor einigen Jahren verstorben war, weckte uns, indem er mit einem Löffel gegen die Wand hämmerte: das war das metallische Rasseln in meinen Ohren. Ich lag auf meiner Pritsche und war nicht fähig zum Aufstehen, obschon Drotte und Roche und die jüngeren Knaben schon auf den Beinen waren und gähnend nach ihren Kleidern tasteten. Meister Malrubius hatte seinen Mantel nach hinten umgeschlagen; ich konnte die lappige Haut an seiner Brust und seinem Bauch sehen, wo Muskeln und Fett mit der Zeit geschwunden waren. Das Dreieck aus Haaren dort war grau wie Schimmel. Ich wollte ihm zurufen, daß ich wach sei, brachte aber keinen Laut hervor. Er schritt an der Wand entlang, weiter mit dem Löffel klopfend. Es verging, wie mir schien, eine Ewigkeit, bevor er die Tür erreichte, stehenblieb und sich hinausbeugte. Ich wußte, daß er auf dem Alten Hof darunter nach mir suchte.
    Dennoch konnte er nicht weit genug sehen. Ich war in einer der Zellen unter dem Vernehmungssaal. Dort lag ich auf dem Rücken, zur grauen Decke hinaufstarrend. Eine Frau, die ich nicht sehen konnte, weinte, aber ihr Schluchzen kam mir weniger zum Bewußtsein als das Klirr,
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