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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers
Autoren: Gene Wolfe
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Freiwilligen, der vermutlich irgendein Arbeiter war.
    Drotte fuhr fort: »Ihr müßt wissen, daß bestimmte Heilpflanzen ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn sie von Graberde bei Mondschein geerntet werden. Bald kommt der erste Frost, der alles zerstört, aber zuvor brauchen unsere Meister ihren Wintervorrat. Die drei Herren erwirkten, daß man uns heute abend hier einläßt, und ich lieh mir zum Helfen diesen Knaben von seinem Vater.«
    »Ihr habt nichts bei euch zum Kräutersammeln.«
    Noch immer bewundere ich Drotte dafür, was er als nächstes getan hat. Er sagte: »Wir sollen sie zum Trocknen in Büschel binden«, und zog ohne jegliches Zögern ein Stück gewöhnlicher Schnur aus der Tasche.
    »Ich verstehe«, antwortete der Freiwillige. Es war offensichtlich, daß er nichts verstand. Roche und ich rückten langsam näher zum Tor.
    Drotte indes trat ein Stück zurück. »Wenn ihr uns die Kräuter nicht sammeln laßt, gehen wir lieber wieder. Ich glaube nicht, daß wir den Knaben jetzt noch dort drinnen finden können.«
    »Nein, ihr geht nicht! Er muß raus!«
    »Also gut«, erwiderte Drotte unwillig, und wir gingen hinein, gefolgt von den Freiwilligen. In bestimmten Mythen wird behauptet, die wirkliche Welt sei vom menschlichen Verstand geschaffen, da unsere Wege von den künstlichen Kategorien gelenkt werden, in die wir eigentlich unterschiedslos Dinge packen – Dinge, die schwächer sind als unsere Wörter dafür. Intuitiv verstand ich diesen Grundsatz in jener Nacht, als ich den letzten Freiwilligen hinter uns das Tor schließen hörte.
    Einer, der bis jetzt stumm gewesen war, sagte: »Ich werd' bei meiner Mutter Wache halten. Wir haben schon viel Zeit verloren. Inzwischen könnten sie sie meilenweit verschleppt haben.«
    Murmelnd pflichteten einige der übrigen Männer ihm bei, und die Gruppe zerstreute sich allmählich, wobei eine Laterne nach links, die andere nach rechts wanderte. Wir gingen über den Mittelweg (den wir immer nahmen, wenn wir zum eingestürzten Stück der Zitadellenmauer zurückkehrten), begleitet von den restlichen Freiwilligen.
    Es ist meine Art, meine Freude und mein Fluch, nichts zu vergessen.
    Jedes Kettenrasseln, jeden heulenden Windstoß, jeden Anblick, jeden Geruch und Geschmack behalte ich unverändert in Erinnerung, und wiewohl ich weiß, daß es nicht jedermann so ergeht, kann ich mir nicht vorstellen, wie es anders wäre; als ob man geschlafen hätte, obschon das Erlebnis lediglich weit zurückliegt. Jene paar Schritte auf dem fahlen Pfad leben nun wieder bildhaft vor mir auf: Kalt war's, und es wurde noch kälter; wir hatten kein Licht, und allen Ernstes rollten nun vom Gyoll her die Nebelschwaden an. Ein paar Vögel flatterten, einen Schlafplatz in den Pinien und Zypressen suchend, aufgeregt von Baum zu Baum. Wie es sich anfühlte, als ich mir mit den Händen die Arme rieb; wie die Laternen ein Stück weit entfernt zwischen den Grabsäulen schaukelten; wie der Nebel den Geruch des Flußwassers aus meinem Hemd herausholte und die Würze der in einer neuen Umdrehung liegenden Erde zutage treten ließ: an all das erinnere ich mich. Ich wäre an diesem Tag beinahe gestorben, im Wurzelgewirr erstickt; diese Nacht sollte den Beginn meines Mannseins markieren.
    Dann fiel ein Schuß, der erste, den ich erlebt hatte; der violette Energieblitz spaltete die Dunkelheit wie ein Keil und endete mit einem Donnerschlag. Irgendwo stürzte tosend ein Monument ein. Daraufhin wieder Stille ... in der sich alles um mich herum aufzulösen schien. Wir fingen zu laufen an. Männerstimmen, weit weg. Ich hörte das Klirren von Stahl auf Stein, als hätte jemand mit einer Hellebarde eine Gedenktafel getroffen. Ich rannte einen Pfad entlang, der mir (zumindest meinte ich das damals) völlig unbekannt war; diese mit Knochen geschotterte Wegzeile, die so schmal war, daß nur zwei nebeneinander darauf paßten, führte in ein kleines Tal hinab. Im Nebel konnte ich nichts außer den dunklen Grabsteinhaufen zu beiden Seiten erkennen. Ganz plötzlich, als hätte man mich gepackt und an eine andere Stelle gesetzt, war der Pfad unter meinen Füßen verschwunden vermutlich hatte ich eine Kurve übersehen. Ich wandte mich jäh seitwärts, um einer Statue auszuweichen, die plötzlich vor mir auftauchte, und stieß mit voller Wucht gegen einen Mann in einem schwarzen Umhang.
    Er war hart wie eine Mauer; beim Aufprall verlor ich das Gleichgewicht und bekam keine Luft mehr. Ich hörte ihn Verwünschungen knurren,
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