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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris
Autoren: Ana Veloso
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    Teil 1
    1
    V on drei Seiten drohte Ungemach.
    Von rechts sah Lua die verrückte Imaculada kommen, die ihren Blick starr auf sie richtete und genau auf sie zuhumpelte, weiß der Himmel, warum. Lua hatte mit der Alten nie ein Wort gewechselt und sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern. Imaculada gehörte seit Urzeiten zu São Fidélio, so ähnlich wie die knarrenden Stufen zum Dachgeschoss des Herrenhauses, und genau wie bei der Treppe konnte sich niemand daran erinnern, sie jemals anders als verwittert und ächzend erlebt zu haben. Sie war Lua unheimlich, und die junge Sklavin wollte nichts mit der Alten zu schaffen haben.
    Von links näherte sich der Senhor. Er sah aus, als wolle er Lua eine weitere unsinnige Aufgabe erteilen, eine von der Art, die ihm ein wenig Zweisamkeit mit ihr erlaubt hätte. Allmählich drängte sich ihr der Verdacht auf, dass er sich seine Hemdknöpfe absichtlich abriss, nur damit er sie bitten konnte, ihm in sein Studierzimmer zu folgen und sie ihm schnell wieder anzunähen. Nicht dass es andere Sklavinnen gegeben hätte, die in dieser Arbeit viel geübter waren als sie. Auf eine Begegnung mit ihm war sie ebenso wenig erpicht wie auf die mit der alten Sklavin.
    Sie hätte nach vorn oder nach hinten zum Schuppen ausweichen können, um beiden aus dem Weg zu gehen. Doch dann sah sie plötzlich, dass Gefahr aus einer Richtung drohte, aus der sie sie nicht vermutet hatte: von oben. Ein Drachen schoss im Sturzflug auf sie zu. Die Hühner stoben wild gackernd auseinander, als Lua sich vor dem Ungetüm in Sicherheit bringen wollte und dabei fluchend durch ihre Mitte rannte. Sie hatte geahnt, dass der kleine Sohn der Wäscherin nicht in der Lage sein würde, den selbstgebauten Drachen bei dem starken Ostwind zu bändigen. Dennoch hatte sie dem Kind zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, hatte sich darauf verlassen, dass seine Mutter rechtzeitig eingreifen würde.
    Sie lief geradewegs in die Arme Imaculadas. Hinter ihr hörte sie eine Vielzahl an Geräuschen, aus denen sie schließen konnte, was geschehen war: das Gezeter des Senhors, der offenbar beinahe von dem Drachen getroffen worden wäre, das Geflatter der ebenfalls erschrockenen Hühner sowie das Geschrei der Wäscherin, die ihren allzu lebhaften Sohn maßregelte. Dann folgte das Geheul des Jungen, dessen Drachen anscheinend zerfetzt in den Ästen des Cajú-Baumes hing.
    Sehen konnte sie von alldem nichts. Imaculadas Blick hielt den ihren unerbittlich gefangen.
    »Ich wissen, dass du Richtige«, sagte sie. »Wind auch wissen.«
    Lua hatte von den anderen Sklaven auf São Fidélio erfahren, dass Imaculada noch zu jenen gehörte, die direkt aus Afrika nach Brasilien gebracht worden waren. Die anderen waren alle hier geboren. Daher hätte sie das schlechte Portugiesisch der Alten nicht wundern dürfen, was es aber trotzdem tat. Es verstärkte den Eindruck von Andersartigkeit, den all ihre Gesten und Blicke ausstrahlten. Und was sollte das überhaupt heißen, sie sei die Richtige? Wofür? Glaubte die Alte tatsächlich, dass nicht ein dummer Zufall sie in ihre Nähe geführt hatte, sondern der heiße Ostwind, von dem es hieß, er komme geradewegs aus Afrika?
    Imaculadas Stimme war so ausdruckslos wie ihre Miene. Lua wagte trotzdem nicht, ihr zu widersprechen. Vielleicht veranlasste die Autorität des Alters sie dazu, Imaculada, die ihren Arm umklammert hielt, zu folgen. Vielleicht war es aber auch ihre Furcht davor, dass an den Gerüchten etwas dran war, hieß es doch von der betagten Sklavin, sie verfüge über magische Kräfte. Lua bekreuzigte sich im Geiste.
    Imaculada führte die Jüngere um das Herrenhaus herum zu einer steinernen Bank, die nun, am Nachmittag, im Schatten des Gebäudes stand. Es war die dem Wind zugewandte Seite. Eine kräftige Bö fuhr unter Imaculadas Rock und entblößte ihre dürren, ledrigen Waden, ein Anblick, der Lua sonderbar anrührte. Die Alte bedeutete ihr, Platz zu nehmen, aber angesichts der ihr drohenden Strafe wagte sie nun endlich Widerworte.
    »Jesus und Maria! Was, wenn die Senhora uns hier erwischt? Du weißt, dass sie uns auspeitschen lassen kann, wenn es ihr gefällt. Sie hasst Müßiggang bei den Sklaven, und noch viel mehr verabscheut sie die Vorstellung, mit ihrem kostbaren Hinterteil dieselbe Stelle zu berühren, auf der schon einmal ein schwarzer Hintern gesessen haben könnte.«
    Die Alte nickte bedächtig. »Du viel lernen. Viel, viel.«
    Lua war verunsichert. Hieß das, sie hatte viel
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