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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris
Autoren: Ana Veloso
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schreiben konnten. Aus diesem Grund würde sie vor einer ihr fremden und noch dazu so furchteinflößenden Person wie Imaculada nie zugeben, dass es sich wirklich so verhielt. Der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der um ihre verbotenen Kenntnisse wusste, war ihre Freundin Fernanda, und die scherte sich herzlich wenig darum. Wofür das Lesen gut sei, wenn man keine Bücher habe? Da hatte sie nicht ganz unrecht. Allerdings verschaffte Lua sich gelegentlich Zugang zu Büchern, was selbst Fernanda nicht wusste.
    »Du tun dumm, das klug. Aber Kasinda wissen. Du schreiben Geschichte von Kasinda.«
    »Wer ist Kasinda?«, fragte Lua, obwohl ihr bereits schwante, dass die Alte selbst damit gemeint war.
    »Kasinda mein afrikanisch Name. Imaculada gibt nicht.« Daraufhin spuckte sie mit hassverzerrtem Gesicht vor Lua in den Staub.
    »Du willst also, dass ich deine Geschichte aufschreibe? Wozu soll das gut sein?«
    Imaculada starrte sie ungläubig an und schimpfte in ihrem Kauderwelsch, sie sei womöglich noch dümmer, als sie sich gab, und sie habe sich in ihr getäuscht. Ihre Geschichte verdiene es, bewahrt zu werden, und sie, Lua, solle sich glücklich schätzen, die Auserwählte zu sein, die dank dieses überlieferten Wissens zu großer Weisheit gelangen könne. Das zumindest entnahm Lua dem Wortschwall, der mit Wörtern einer ihr unbekannten Sprache durchsetzt war.
    »Aber ich sagte dir doch: Ich kann nicht schreiben. Selbst wenn ich es könnte, ich hätte nicht einmal Papier und einen Stift, um es zu tun.«
    Imaculada lächelte verschmitzt, griff in ihren Rockbund und zog eine Kladde sowie einen Kohlegriffel daraus hervor.
    »Du anfangen. Jetzt. Nicht mehr viel Zeit, ich sterben.«
    Sie sprach, wiewohl zittrig und krächzend, in sehr bestimmtem Ton, und der Blick aus ihren kleinen schlauen Äuglein war scharf. Würde sie Lua mit einem bösen Fluch belegen, wenn sie ihrem Wunsch nicht Folge leistete? Lua musste sich wohl oder übel fügen. Sie konnte ja auch einfach etwas anderes niederschreiben als das, was die Alte ihr erzählte – sie würde das Geschriebene ja doch nicht lesen können.
    »Na schön«, sagte Lua widerstrebend. »Gib mir die Schreibsachen.«
    Imaculada reichte ihr Stift und Papier, und Lua versuchte, einen Blick auf ihre verstümmelte Hand zu erhaschen. Es hieß, ihr fehle ein Finger, und es kursierten jede Menge Gerüchte darüber. Aber Imaculada hielt ihre Hände mit den dicken Adern und den knotigen Fingern immer so geschickt, dass man den angeblichen Stumpf nie sehen konnte.
    Ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte Lua, denn es war lange her, dass sie die Möglichkeit gehabt hatte, zu schreiben. Es bereitete ihr ein immenses Vergnügen, den Griffel in ihrer linken Hand zu fühlen und den Duft des Papiers einzuatmen. Erneut sah sie sich um. Mit diesen verbotenen Utensilien erwischt zu werden zöge eine weitaus schlimmere Bestrafung nach sich als das ungebührliche Benutzen einer Steinbank.
    »Niemand kommen. Alle Angst vor Kasinda«, murmelte die Alte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Von den Sklaven jedenfalls traute sich niemand in ihre Nähe. Und dass ein Mitglied der Familie Oliveira sich hierher verirrte, schien Lua ausgeschlossen. Dona Ines hatte Besuch, Dom Felipe hatte sich schätzungsweise längst ein anderes Opfer auserkoren, Sinhá Eulália scheute die Sonne, und der junge Sinhô Manuel brütete sicher wieder über den Zahlen der Rechnungsbücher. Der älteste Sohn der Familie, Carlos, kam ohnehin nur an den Wochenenden.
    »Fang an«, forderte Lua Imaculada ein wenig barsch auf, um sich nicht anmerken zu lassen, welche Vorfreude aufs Schreiben sie erfüllte.
    »Mein Name Kasinda«, begann die Alte, und Lua notierte brav die Schilderungen, nicht ohne diese zuvor zu korrigieren. Wem nützte schon eine Geschichte, die voller fremdländischer Vokabeln war und von so fehlerhafter Grammatik, dass man sie kaum verstand?
    »Ich sein neun Tochter von groß Häuptling Mukua-nguzu und Frau drei Nzinga. Ich sehr schön und sehr klug. Mit vierzehn ich heirate stolzer Krieger.«
    Lua horchte auf. Die alte Hexe Imaculada erzählte vielleicht ein Märchen. Doch wider Willen begann die Geschichte sie in ihren Bann zu ziehen. Sie schrieb fieberhaft mit, was sie große Anstrengung kostete, da sie das Gehörte zunächst deuten und gleichzeitig umformulieren musste.
    Sollte irgendjemand eines Tages das unscheinbare Heft finden, in dem sie alles notierte, dann konnte sie nur hoffen, dass er ihr verzieh,
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