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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris
Autoren: Ana Veloso
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gelernt? Viele portugiesische Wörter, die Imaculada möglicherweise nicht verstand? Oder wollte sie Lua vielmehr zu verstehen geben, sie habe noch viel zu lernen?
    Imaculada setzte sich auf die Bank und hielt dabei weiter Luas Arm fest, so dass diese gezwungen war, es ihr gleichzutun. Lua schaute sich ängstlich nach allen Seiten um. Wenn sie nun jemand sah und bei den Herrschaften anschwärzte? Die dicke Maria zum Beispiel, die allen Mädchen, die hübscher waren als sie, das Leben zur Hölle machte? Oder der liebedienerische João, der sich vom Verpetzen gewisse Vorteile in der Casa Grande versprach?
    Es war weit und breit niemand zu sehen, doch das mochte nicht viel heißen. Auf São Fidélio ist man nie allein, so viel hatte Lua in ihren 18 Lebensjahren, die sie alle auf dieser Fazenda verbracht hatte, gelernt. Die Zuckerrohrplantage erstreckte sich weit über den Horizont hinaus, und auf den Feldern sowie im Urwald konnte man sich sehr einsam fühlen. Doch das Anwesen selbst, bestehend aus Herrenhaus,
casa grande
, sowie den Nutzgebäuden und dem Sklaventrakt,
senzala
, beherbergte an die 200 Personen, von denen nur fünf von weißer Hautfarbe waren. Von den Sklaven wiederum befand sich immer mindestens ein Viertel im oder am Haus – jede Menge Leute also, die im Herrenhaus, in der Küche, der Wäscherei, den Ställen, der Schmiede, im Obstgarten, in der Maniokmühle oder an der Zuckerrohrpresse arbeiteten, ganz zu schweigen von Müttern im Kindbett, Rekonvaleszenten, kleinen Kindern, Greisen oder anderen Personen, die aus diesen oder jenen Gründen nicht einsatzfähig waren.
    Lua hatte schon in ihrer Kindheit die Erfahrung gemacht, dass sie sich, wenn sie Ruhe suchte, möglichst weit vom Haus entfernen musste. Einmal hatte sie der Sinhazinha Eulália ein Buch stibitzt, um es heimlich zu lesen, doch sie kam kaum drei Seiten weit, da sauste die Gerte auf sie nieder. Die Gouvernante hatte sie bei ihrem mittäglichen »Verdauungsspaziergang«, wie sie es nannte, erwischt. Kein normaler Mensch ging freiwillig mittags aus dem Haus, nur Lua und diese schreckliche Frau, und prompt trafen sie aufeinander. Ein anderes Mal wollte sie, gerade 13-jährig, mit einem schmucken Burschen turteln – der, Gott hab ihn selig, im vergangenen Jahr bei einem Fluchtversuch getötet wurde –, da wurden sie von einem Hund sowie drei kleinen Jungen gestört, die ebendiesen Hund fangen wollten.
    Es war also nicht ratsam, in der Nähe des Hauses irgendwelchen Beschäftigungen nachzugehen, bei denen man ungestört bleiben wollte. Und das verschwörerische Getue von Imaculada verhieß nichts Gutes. Allerdings war Luas Neugier schon immer größer als ihre Angst vor Bestrafung gewesen, so dass sie sich also hinsetzte und Imaculada fragend ansah.
    »Ich sterben«, sagte die Alte in einem Ton, in dem sie auch hätte mitteilen können, dass an diesem wie an jedem anderen Tag in den letzten drei Monaten die Sonne schien.
    »Oh«, brachte Lua hervor.
    »Nicht schlimm. Ich zurück zu mein Ahnen und mein Kinder nach Cubango-Fluss, nach Ndongo.«
    »Oh«, sagte Lua ein weiteres Mal. Was sonst hätte sie auf eine solche Aussage erwidern sollen? Ihr graute vor den sentimentalen Erinnerungen der Alten. Sie wollte nichts über sie, ihre Familie oder ihre heidnische Herkunft wissen. Die Afrikaner waren Wilde, das wusste doch jedes Kind. Sie waren Hottentotten und Menschenfresser, oder etwa nicht? Die Sklaven konnten sich glücklich schätzen, dem schwarzen Kontinent und seinen bestialischen Bräuchen entkommen zu sein. Die Liebe von Jesus Christus sowie die Fürsorge ihrer Senhores wogen doch hundertmal die Tatsache auf, dass sie nicht »frei« waren. Lua schloss sich ganz der Meinung des Padres an, der jeden Sonntag predigte, die Freiheit sei ein Gut, das den Negern überhaupt nicht bekäme. Im Übrigen fühlte sie sich durchaus nicht als jemandes Eigentum, auch wenn es auf dem Papier wohl so war.
    »Du tun dumm, aber du sein klug. Du schreiben.«
    »Nein, das stimmt nicht«, antwortete Lua. Endlich sprach Imaculada ein Thema an, zu dem sie sich hätte äußern können, aber sie hatte nicht vor, ihr dieses Geheimnis anzuvertrauen, ein Geheimnis, das anscheinend bei weitem nicht so wohlgehütet war, wie sie es sich erhofft hätte. Sie konnte nämlich lesen und schreiben, beides, wie sie ganz unbescheiden fand, sehr gut. Die Eitelkeit war eine Todsünde, hatte der Padre sie gelehrt, doch eine noch viel größere Sünde war es, wenn Sklaven lesen und
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