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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris
Autoren: Ana Veloso
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trugen, liefen wir zu der von ihr beschriebenen Unfallstelle, die nicht allzu weit entfernt lag.
    Was wir dort vorfanden, war nicht etwa ein verstörter kleiner Junge. Es war vielmehr eine Gruppe grimmig dreinschauender Männer, die mir unbekannt waren. Sie waren nicht von unserem oder einem befreundeten Stamm, denn sie trugen Schmucknarben, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Einer von ihnen verstand jedoch offenbar unsere Sprache, denn Thandeka wandte sich triumphierend an ihn: »Hier ist sie. Habe ich dir zu viel versprochen? Jung, stark, schön und gebärfreudig.«
    Der Mann kam auf mich zu und kniff mich ins Gesäß. Ich schlug seine Hand fort, woraufhin er mich hart zu Boden stieß. Meine kleine Tochter begann zu schreien.
    »Gib sie mir«, sagte Thandeka. »Wo du hingehst, bist du ohne sie besser dran.«
    »Was hast du getan, Schwester?« Ich konnte nicht fassen, was mir widerfuhr. Zwar waren auch mir die Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach sich Menschenfänger in unserer Gegend herumtrieben, doch gesehen hatte ich nie einen von ihnen. Noch viel weniger wollte mir in den Sinn, dass ausgerechnet ich zu ihrer Beute wurde. In die Dörfer fielen die Sklavenhändler nicht ein, das war ihnen zu gefährlich. Sie ergriffen ausschließlich Menschen, die allein unterwegs waren. Im Busch, da war ich mir sicher, hätte ich sie rechtzeitig gehört und ihnen entkommen können. Eine so bösartige Täuschung jedoch, eine so gemeine Falle hätte ich in meinen schlimmsten Träumen nicht für möglich gehalten.
    »Du bist eine Schande für Uanhenga«, erklärte Thandeka wütend. »Dein Mann steht unter deiner Fuchtel, nicht einmal eine Zweitfrau wagt er sich zu nehmen. Das hat er nicht verdient. Und wir anderen Frauen aus Cambundi haben es nicht verdient, dass wir neben dir alle hässlich, dumm und faul wirken. Wir wären alle besser dran ohne dich. Und wo diese Männer dich hinbringen, da kannst du auch mit deinen Tugenden glänzen. Es wird dir gutgehen.«
    Viele Jahre später gelangte ich zu der Einsicht, dass Thandeka sich in Rage geredet hatte, um ihr wahrscheinlich unüberlegtes Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen. Damals jedoch verspürte ich nichts als grenzenlosen Zorn angesichts ihres Verrats. Ich spuckte sie an, versuchte, sie zu schlagen und zu treten, doch auf ein Zeichen ihres Anführers hin ergriffen mich zwei weitere Männer und sorgten dafür, dass ich ihr nicht weh tun konnte.
    Thandeka nickte dem Anführer zu und hielt ihm eine geöffnete Hand hin. Sie wollte ihren Lohn in Empfang nehmen. Ich war fasziniert von der Szene, denn ich wusste genau, was nun folgen würde. Thandeka war schon immer die dümmste von uns neun Schwestern gewesen.
    Blitzschnell griff der Anführer nach Thandekas Hand, drehte ihr den Arm auf den Rücken und raunte ihr zu: »Du bekommst schon noch, was du verdienst.«
    Sie heulte und jammerte und flehte den Mann an, sie gehen zu lassen. Voller Verachtung wiederholte ich ihre eigenen Worte: »Wo diese Männer dich hinbringen, wird es dir gutgehen.«
    »Aber … aber du wolltest mir doch …«, stammelte Thandeka an den Anführer gewandt, der ihren Arm wieder losgelassen hatte und sie nun mit erhobenen Brauen musterte wie ein fremdartiges Insekt.
    Ich erfuhr nie, was es gewesen war, das diese Leute meiner Schwester als Lohn versprochen hatten. Denn auf einen Wink des Anführers ergriffen die anderen Männer Thandeka, rissen ihr brutal ihr Hüfttuch sowie die Halsketten fort und stießen sie in den Staub. Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen. Trotz meiner Wut auf meine Schwester konnte ich nicht mit ansehen, wie ihr auf so grausame Weise Gewalt angetan wurde.
    Der Anführer zwang mich jedoch, hinzusehen. Es war grauenhaft. Ich unterdrückte jeden Laut, aber mir liefen Tränen übers Gesicht. »Das«, so sagte der Mann, »passiert widerspenstigen Frauen. Also benimm dich.« Daraufhin nahm er sein Messer und stieß es mit einem gezielten Hieb in die Kehle meiner Schwester. Ich werde nie den Anblick vergessen, wie sie dort im Staub lag, geschändet, verstümmelt und mit dem Ausdruck unbegreiflichen Entsetzens in ihren im Tod weit geöffneten Augen.
    Die Männer fesselten meine Arme auf dem Rücken und schubsten mich vor sich her. Später habe ich mich oft gefragt, warum sie mit meiner Schwester nicht dasselbe anstellten wie mit mir, doch ein wirklich guter Grund dafür fiel mir nicht ein. Thandeka war zwar dumm, hätte aber als Sklavin gewiss einen guten Gewinn eingebracht,
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