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Das Lied des Kolibris

Das Lied des Kolibris

Titel: Das Lied des Kolibris
Autoren: Ana Veloso
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Wasser zu trinken. Am nächsten Tag litt die Hälfte von uns unter starkem Durchfall, was die Portugiesen zu scheußlichen Wutausbrüchen veranlasste. Als ob wir an unserer Misere selber schuld gewesen wären, wurden wir angeschrien, ausgepeitscht und geprügelt.
    Meiner Tochter ging es gut, denn sie bekam ja noch Muttermilch. Mir selbst blieb ebenfalls das Schlimmste erspart, denn ich aß und trank so gut wie gar nichts. Ich hatte mich die ganze Zeit über an dem Glauben festgehalten, dass Uanhenga mit den anderen Kriegern unseres Stammes noch auftauchen und mich befreien würde, doch am nächsten Tag schwand auch diese Hoffnung. Wir wurden, gemeinsam mit weiteren Gruppen von Gefangenen aus anderen Teilen Ngolas, in ein großes Schiff gebracht.
    Am vierten Tag nach meiner Verschleppung legte das Schiff ab. Das alles geschah im Jahre 1705 der Zeitrechnung der Verbrecher.

3
    J etzt schreiben wir das Jahr 1762 – das heißt, du bist fünfundsiebzig Jahre alt!«, rief Lua aus und unterbrach Imaculadas Schilderung.
    »Ja.«
    Sie konnte es kaum glauben. Das war ein geradezu biblisches Alter. Kaum ein Sklave wurde älter als vierzig Jahre, und selbst die Weißen, die sich Ärzte, Ruhe und Pflege leisten konnten, erreichten kein so unvorstellbares Alter. Der betagteste Mensch, den Lua bisher gekannt hatte, war die Mutter ihres Senhors gewesen, Dona Isabel, die im vorletzten Sommer mit 69 Jahren in vollem Galopp von einem Pferd gestürzt war. Man munkelte, dass sie absichtlich so schnell und unvorsichtig geritten war, um die Trostlosigkeit des Alters zu verkürzen. Aber Selbstmord war eine Sünde, und da Dona Isabel in geweihter Erde in dem Familiengrab bestattet wurde, nahm Lua an, dass es eben doch nur ein tragischer Unfall gewesen war.
    »Lua!«, hörte sie da die fordernde Stimme der Sinhazinha. »Lua! Komm sofort her, du faules Stück!«
    »Ich muss gehen«, sagte sie zu Imaculada.
    Die Alte nickte. »Morgen weiter.«
    »Ja, in Ordnung. Ich freue mich schon.« Und das stimmte wirklich. Die Geschichte Kasindas fesselte Lua mehr, als sie anfangs vermutet hatte. Sie steckte Kladde und Griffel in ihre Rocktasche und lief zum Haus, ohne sich noch einmal nach Imaculada umzusehen.
    Die Sinhazinha, also die Tochter des Hauses, erwartete sie mit geröteten Wangen an der Verandatür. »Nie bist du da, wenn man dich braucht!«, schimpfte sie. »Sieh nur, ich bin ganz aus der Puste, weil ich versucht habe, den Sekretär an die andere Wand zu schieben.«
    Warum hatte sie nicht einfach einen anderen Haussklaven um Hilfe gebeten? João oder Luís wären ihr sicher gern zur Hand gegangen. Aber die Sinhazinha betrachtete Lua seit ihrer Kindheit als ihr Mädchen für alles. Als sie noch klein waren, hatte sie als ihr Spielzeug herhalten müssen, später als ihre Zofe, ihre Waschfrau, ihre Möbelpackerin oder ihre Köchin. Sie war so eigen in ihren Gewohnheiten, dass sie es nicht duldete, wenn jemand anders etwa ihr Ballkleid ausbesserte, selbst wenn ein anderer Sklave für die Aufgabe geeigneter gewesen wäre als Lua.
    Sie war kein schlechter Mensch, die Sinhá Eulália. Die beiden jungen Frauen waren gleichaltrig, und sie kannten einander ihr Leben lang. Allerdings hatte Eulália manchmal sehr merkwürdige Ideen, wie etwa die, einmal im Monat ihr Zimmer umräumen zu müssen.
    »Es tut mir leid, Sinhá Eulália«, sagte Lua so zerknirscht wie möglich. »Die alte Imaculada hat mich aufgehalten, und Ihr wisst ja, was man über sie sagt. Da fehlte mir die Courage, sie einfach stehenzulassen.«
    »Erstens: Was man über die Alte sagt, ist erstunken und erlogen. Sie ist einfach nur ein böses altes Weib. Zweitens: Musst du dich immer so gestelzt ausdrücken? Da hat man ja fast das Gefühl, einer Lehrerin gegenüberzustehen. Und drittens: Komm jetzt, ich will den Schreibtisch lieber an der Wand links vom Fenster stehen haben.«
    Lua knickste artig. Sie wusste, dass ihre Herrin keine Antwort von ihr erwartete, sondern eifriges Anpacken. Sie wusste ebenfalls, dass die Arbeit, die ihrer harrte, von ihr ganz allein erledigt werden würde. Die Sinhazinha würde dann nur noch zusehen und sie herumkommandieren. Aber so war es eben. So war es immer schon gewesen, und so würde es immer bleiben. Das war die natürliche Ordnung der Welt – einer Welt, in der sie sich recht wohl fühlte.
    Sie wurde so gut wie nie geschlagen und hatte mehr Freiheiten als viele andere. Viel unfreier als die Sinhá Eulália fühlte sie sich eigentlich nicht, denn
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