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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht
Autoren: David J. Schow
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Louisiana, Texas und andere Orte im Süden erwähnt. Das scheint ihr eine gute Richtung.
    Es geht abwärts in Amerika. Sie lacht ihr eigenes Spiegelbild an.
    Jeder Kilometer bringt sie weiter weg. Sie schält sich aus ihrer Chicagoer Persönlichkeit.
    Die Namen der Städte auf dem Weg sind seltsam und komisch: Metropolis, Mound City, Cairo, Marked Tree. Fernfahrer in den Cafés fragen sie, wo sie herkommt. Die Rezeptionisten in den Motels lächeln wie Norman Bates persönlich und fragen, ob sie allein reist. Was macht ein nettes Mädchen …?
    Jamaica ist kein nettes Mädchen. Und sie hat auch keine Angst davor, dort unter die Dusche zu gehen.
    Was für Anfänger in diesem Geschäft. Das ist alles ganz schön komisch.
    Sie vermutet, dass man die Leichen finden wird. Und dann folgt ein Haftbefehl und eine Fahndung nach ihr und dem Wagen, den sie fährt. Vielleicht morgen. Besser nicht verkaufen. Ihn verschwinden lassen, wie geplant. Ein Wikingerbegräbnis in irgendeinem Sumpf. Aber erst morgen. Zurzeit braucht sie die Entfernung, die der Wagen ermöglicht. Manchmal kann man sehr wohl vor seinen Problemen davonlaufen. Vor ihnen wegfahren.
    Sie wird traurig, wenn sie an Jonathan denkt. Ein netter Kerl. Zuvorkommend. All die richtigen Charaktereigenschaften und Wünsche. Und so falsch für sie. Als nicht realisierte Möglichkeit ist es sogar ein Trost. Der delikate Geschmack eines Wie-es-hätte-sein-Könnens. Er hatte das, was ihm zugestoßen war, nicht verdient, aber er war gestorben, als er etwas getan hatte, als er gehandelt hatte, eine Verantwortung auf sich genommen hatte. Und das zählte, egal, wie man es sah.
    Sie wird nicht um ihn weinen oder wehklagen. Sie ist sich sicher, dass er das nicht gewollt hätte.
    Sie fragt sich, ob noch etwas von seinem Sperma irgendwo in ihr verblieben ist. Ein winziges Stückchen seines Lebens. Sie weiß, dass dem nicht so ist, und jammert nicht. Sie weint ein paar Kilometer lang bei den traurigen Liedern im Radio. Sie hat ein Recht dazu.
    Ein paarmal tut sie so, als säße sein Geist neben ihr im Wagen.
    Was Cruz anging, den hatte Emilio ermordet, sobald er in Florida in das Flugzeug gestiegen war, oder? Emilio hatte ihn über die ganze Entfernung hinweg umgebracht und war dann passend zum Finale selbst aufgetaucht. Für den großen Showdown. Rosie hatte Cruz aus der Luke geschubst, ohne ihm einen Fallschirm zu geben. Jonathan hatte versucht, ihm zu helfen, aber es war ihm nicht gelungen. Cruz war schon ein toter Mann, als er Jamaica das erste Mal unter die verführerischen Augen getreten war.
    Das ganze Blut. Cruz hatte geglaubt, er hätte einen Geist gehört. Nach allem, was Jamaica weiß, ist er das jetzt selbst. Dieser Klumpen Kokain war für ihn wichtiger als alles andere. Sie erinnert sich an den Blick seiner Augen, als er sich das Kilo geschnappt hat. Der Blick, nachdem sie durch die Metzelei in Nr. 107 gestiefelt waren. Der Hunger in seinen Augen. Jamaica weiß jetzt, dass sie damals dem Tod ins Auge geblickt hat, auch wenn er noch auf seinen zwei Beinen stand.
    Und noch mehr Tote warten, hinter ihr im Schnee. Der Tod ist geduldig.
    Sie stellt sich Jonathan auf dem Notsitz vor, während sie fährt. Seine Umrisse sind wie das gestoßene Eis in dem Becher, wenn das Getränk geleert ist. Wenn man es anstößt, fällt es zusammen, weil es nur von der eigenen schwachen Oberflächenspannung zusammengehalten wird.
    Er sieht sie an. Sieht sie nur an.
    Und jetzt sind da nur noch seine Augen, grüne Augen, so wie ihre. Sie verblassen.
    Jeffrey Holdsworth Chalmers Tessier hat sie auch angesehen. Nicht kalkulierend, wie er sie benutzen konnte. Wie er sie belügen konnte. Da war nicht die Gier auf Waffen und Drogen und gekauften Sex. Eher ein Blick verletzten Unglaubens. Entschlossenheit, die durch Verwirrung gedämpft wurde. Der Drang, zu entkommen, sich zu verändern. Die Art von Veränderung, die einen lauten, heftigen Knall erzeugt, der die Interferenzen übertönt und einen danach wieder klarer hören lässt.
    Es ist die Art von Blick, wie ihn Jamaica zuletzt immer wieder in ihrem eigenen Gesicht gefunden hat. Zeit für einen neuen Namen. Pass dich an oder friss Scheiße. Sie denkt wieder an Jonathan und wählt einen neuen Namen. So einfach ist das.
    Und vielleicht kann sie irgendwann auch Jeffrey Holdsworth Chalmers Tessier anrufen. Ihn höllisch erschrecken. Irgendetwas anfangen, nachdem sie die scharfen Kanten der Bruchstellen abgefeilt hat, die sie jetzt hinter sich
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