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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht
Autoren: David J. Schow
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folgenden Tages nach.

33.
    Amanda Roberti warf durch die Scheiben in ihrer Haustür einen Blick auf den Schneesturm und zog eine Grimasse. Heute gibt es keine Post, dachte sie.
    Die Post war wichtig für Amanda. Sie ging meistens zweimal am Tag zum Oakwood-Postamt, weil sie wusste, dass die Postangestellten rund um die Uhr arbeiteten, die Briefe sortierten und in Säcke packten und die Postfächer mit der Post auffüllten, die fortwährend hereinkam. Amanda betrieb einen Nachrichtensuchdienst von zu Hause aus, und die Post war ihre Lebensader.
    Der Nachteil war, dass sie keinerlei private Kontakte durch ihre Arbeit bekam, so wie andere Leute sie als Nebeneffekt ihrer Arbeit zu haben schienen.
    Der Schnee sammelte sich auf ihrer Veranda. Selbst durch die verriegelte Sturmtür konnte sie die Attacken der Kälte fühlen, ihre andauernden Aufforderungen, ins Freie zu kommen und zu leiden.
    Hinter ihr knackte ein Zweig im Kamin. Im Herbst hatte sie all die dürren Äste von den Bäumen in ihrem Garten gesammelt und sie unter einer Zeltplane auf der Veranda aufgestapelt, um sie im Winter zu verheizen. Der Kamin war nur bescheiden, aber er hatte weiße Kacheln. Das Feuer verlieh ihrem winzigen Wohnzimmer sowohl Wärme als auch Licht.
    Der größte Teil der ersten Etage war den Papierstapeln vorbehalten, die ihren Lebensunterhalt bedeuteten. Zeitschriften in Chicago und New York bezahlten sie anständig dafür, dass sie ihre Augen offen und ihre Schere bereithielt. Amanda Roberti war eine Frau, der das Zeitungspapier nie ausging.
    Sie schlief in dem Schlafzimmer im Erdgeschoss. Sie lebte unten und arbeitete oben. Sie bestand auf dieser klaren Trennung von Arbeit und …
    Welchem Privatleben? Das fragte sie sich aufs Neue.
    Ihr anderes Ich, in dem durchsichtigen Spiegelbild auf der Butzenscheibe, stellte ihr diese Frage.
    Sie hatte die Spitzengardine vor der Tür mit einem Stift zurückgezogen, weil ihre Nägel immer noch feucht waren. Zurechtgefeilte Nägel, perfekt lackiert, Grundierung plus Lackierung. Wer hat schon die Zeit, sich seine Nägel so perfekt zu gestalten? Nur Leute, die nie wahrgenommen werden.
    Die einzige Farbe, die das Glas wiedergab, war die Farbe ihrer Augen, ein erstaunliches Kornblumenblau. Cruz hatte es sofort bemerkt.
    Amanda hatte Cruz schon lange wieder vergessen.
    Amandas Haus stellte für sie eine gewisse Sicherheit und Stabilität dar. Sie hatte ihren Garten und ihre Veranda und ihre Einfahrt. Sie hielt ihre Nägel gepflegt. Sie wusste immer genau, was sie wollte, wenn sie ihre Ausflüge auf den Markt oder zur Post oder zu ihren Eltern machte. Hier hatte sie ihren Job und ihre Bücher und ihren Kamin und heißen Tee, um die Kälte im Zaum zu halten. Das Kabelfernsehen war ihr Fenster zur Welt. Der Anschluss war ein Weihnachtsgeschenk ihrer Eltern gewesen. Wenn sie sich ein Auto kaufen würde, würde sie die erste Rate mit einem Kredit ihrer Eltern bezahlen.
    Sie träumte davon, wegzukommen. In ihrem Alter hatte sie begonnen, sich selbst einzugestehen, dass Träume nicht immer Realität werden müssen. Sie musste hier weg. Diese Einsicht hatte aber bisher noch nicht dazu geführt, dass sie auch etwas Dementsprechendes unternommen hätte.
    Das war nicht nur ihr Fehler. Sie war attraktiv und war auch mit Männern ausgegangen. Das war aber schon später gewesen. Das College hatte ihren Horizont erweitert, so wie die Highschool ihn eingeengt hatte. Auf der Universität gab es keine Cliquen, keine Hierarchien. Da begann jeder als ein unbeschriebenes Blatt.
    Sie hatte das erste Mal mit einem Mann geschlafen, als sie einundzwanzig war. Danach schlief sie erst ein Jahr später wieder mit einem Mann. Und dann kam ein hektischer Versuch, alles aufzuholen. Das dauerte noch mal zwei Jahre. Und dann war ihre Collegezeit vorüber.
    Warum waren die Männer so merkwürdig?
    Schließlich kam sie zu der Überzeugung, dass es an Chicago lag. Es war so schwierig, hier nette verfügbare junge Männer zu finden.
    Vor allem bei einem so miserablen Wetter wie jetzt.
    Mit der Teetasse in der Hand sah sie auf den Sturm hinaus. Das Schneegestöber schloss alles andere aus. Es gab keine Umrisse, keine Details. Es war unmöglich, das riesige Appartementhaus an der Ecke zu sehen, das, wie sie wusste, aus roten Backsteinen erbaut war. Es war jetzt unsichtbar. Sie konnte sich leicht einreden, dass das ganze Gebäude einfach von Angesicht der Welt verschwunden war. Es war nichts mehr da draußen.
    Der Dampf aus ihrer Tasse
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