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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg
Autoren: Sam Eastland
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krümelte Stalin wie die Bettler auf der Straße den letzten Tabak aus den Kippen und rollte damit neue Zigaretten. Was immer der Grund sein mochte, Stalin behielt ihn für sich.
    »Ich bewundere Ihre Kühnheit, Pekkala. Mir gefallen Leute, die sich nicht scheuen, ihre Meinung zu sagen. Das ist einer der Gründe, warum ich Ihnen traue.«
    »Ich bitte Sie nur, dass Sie mich meine Arbeit machen lassen«, sagte Pekkala. »Das ist unsere Vereinbarung.«
    Ungeduldig ließ Stalin die Hände auf die Knie fallen. »Pekkala, ist Ihnen klar, dass mein Stift schon das Papier berührt hat, auf dem Ihr Todesurteil stand? So nahe war ich davor gewesen.« Er legte die Finger zusammen, als würde er tatsächlich einen Stift in der Hand halten, und krakelte seine imaginäre Unterschrift in die Luft. »Ich habe meine Entscheidung nie bereut. Wie viele Jahre arbeiten wir jetzt schon zusammen?«
    »Sechs. Fast sieben.«
    »Und habe ich mich in der Zeit auch nur einmal in Ihre Arbeit eingemischt?«
    »Nein«, musste Pekkala zugeben.
    »Und habe ich Sie jemals bedroht, nur weil Sie anderer Meinung waren?«
    »Nein, Genosse Stalin.«
    »Und das«, sagte Stalin und zielte mit dem Zeigefinger auf Pekkala, als zielte er mit einer Waffe auf ihn, »ist mehr, als Sie über Ihren früheren Vorgesetzten oder seine sich immer in alles einmischende Gattin Alexandra sagen können.«

I n diesem Augenblick wurde Pekkala in die Zeit zurückgeworfen.
    Wie jemand, der aus einer Trance aufwacht, fand er sich im Alexanderpalast wieder und hatte die Hand erhoben, um an die Tür zum Arbeitszimmer des Zaren zu klopfen.
    Es war der Tag, an dem er endlich den Mörder Grodek aufgespürt hatte.
    Grodek und seine Verlobte Maria Balka hatten sich in einer Wohnung in der Nähe des Moika-Kanals versteckt. Als Agenten der Ochrana das Gebäude stürmten, ließ Grodek einen Sprengsatz explodieren. Das Haus wurde vollständig zerstört, alle darin befindlichen Personen, auch die Agenten, wurden getötet. Grodek und Balka waren unterdessen über den Hintereingang geflohen, wo Pekkala allerdings bereits auf sie gewartet hatte. Er verfolgte sie auf den vereisten Pflastersteinen, bis Grodek die Potsulejew-Brücke überqueren wollte. Auf der anderen Seite hatten sich jedoch Ochrana-Männer postiert, so dass die beiden Flüchtenden in der Falle saßen. Daraufhin erschoss Grodek seine Verlobte, damit sie nicht der Polizei in die Hände fiel. Balkas Leichnam stürzte in den Kanal und verschwand unter den Eisschollen, die wie diamantbesetzte Flöße in die Ostsee hinaustrieben. Grodek, der sich nicht zu springen traute, wollte sich erschießen, aber ihm war die Munition ausgegangen. Er wurde augenblicklich in Gewahrsam genommen.
    Der Zar hatte Pekkala an jenem Tag befohlen, nicht später als bis 16 Uhr im Alexanderpalast zu erscheinen, um seinen Bericht abzuliefern. Der Monarch schätzte es nicht, wenn er warten musste. Pekkala hatte sich daher beeilt und war wenige Minuten vor vier eingetroffen. Er stürmte die Stufen zum Palast hinauf und eilte zum Arbeitszimmer des Zaren.
    Niemand antwortete, also klopfte Pekkala erneut. Noch immer keine Antwort. Vorsichtig öffnete er die Tür. Der Raum war leer.
    Pekkala seufzte.
    Dem Zaren gefiel es zwar nicht, wenn er warten musste, er hatte aber keine Probleme damit, andere warten zu lassen.
    In diesem Augenblick vernahm Pekkala die Stimme des Zaren. Sie kam aus dem Zimmer an der gegenüberliegenden Gangseite, das der Zarin Alexandra gehörte und als das Malvenboudoir bekannt war. Von den hundert Räumen im Alexanderpalast gehörte es zu den berühmtesten – hauptsächlich deshalb, weil es von nahezu allen als ausgesprochen hässlich empfunden wurde. Pekkala musste zustimmen. Seiner Meinung nach war alles in diesem Raum in eine Farbe getaucht, die der von gekochter Leber ähnelte.
    Pekkala blieb davor stehen und versuchte nach seinen eiligen Schritten, zu Atem zu kommen. Dann hörte er die Stimme der Zarin und die wütende Erwiderung des Zaren. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie über ihn sprachen.
    »Ich werde Pekkala nicht entlassen!«, sagte der Zar.
    Pekkala hörte das leise Knarren der Reitstiefel, mit denen der Zar auf und ab schritt. Er wusste genau, um welches Paar es sich handelte – sie waren speziell in England geordert worden und in der Woche zuvor eingetroffen. Der Zar versuchte, sie einzulaufen, was mit ziemlichen Schmerzen einherging. Er hatte Pekkala anvertraut, dass er, um das Leder weich zu machen, sogar den alten
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