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Der Ring des Sarazenen

Der Ring des Sarazenen

Titel: Der Ring des Sarazenen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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jene bis zum Siedepunkt gereizte Stimmung, die unausweichlich war, wenn zu viele Menschen zu lange auf zu engem Raum zusammengepfercht sind. Und die hygienischen Verhältnisse stanken buchstäblich zum Himmel.
    Während Robin in verkrampfter Haltung an die Reling gelehnt dastand und die verdreckten, stoppelbärtigen und graugesichtigen Gestalten betrachtete, die sich auf dem überfüllten Deck drängten, in kleinen Gruppen beieinander standen oder einfach dasaßen und aus trüben Augen ins Leere starrten, verzieh sie Abbé, sie eine Woche lang in die winzige Kajüte eingesperrt zu haben. Sie hatte geglaubt, eine Woche lang in der Hölle gewesen zu sein, aber je länger sie sich auf dem Deck umsah, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass es nicht einmal das Fegefeuer gewesen war. Abbé und die anderen hatten ihr einen Gefallen getan, auch wenn er vermutlich nicht halb so uneigennützig war, wie er ihr in diesem Moment vorkam.
    Eine weitere Woge erschütterte das Schiff und durchtränkte Robin mit salziger Nässe. Dennoch blieb sie weiterhin an der Reling stehen, denn nach den endlosen Tagen, die sie in ihrem eigenen Gestank dagelegen hatte, erschien ihr die eisige Seeluft wie eine Labsal. Auch wenn sie vor Kälte buchstäblich mit den Zähnen klapperte, erlangte sie allmählich eine lang vermisste Klarheit über ihre Situation, und selbst ihr rumorender Magen beruhigte sich zusehends. Vielleicht hätte sie Salims Rat doch befolgen und sich schon früher zwingen sollen, an Deck zu gehen. Aber vielleicht hätte sie auch schon vor einem Jahr auf die Stimme der Vernunft hören und erst gar nicht zu diesem Kreuzzug aufbrechen sollen.
    »Bruder Robin! Hier oben!«
    Robin sah sich einen Moment lang hilflos auf dem überfüllten Deck um, bevor die Stimme zum zweiten Mal erscholl und sie Bruder Abbé entdeckte. Erst einen weiteren Moment später erkannte sie auch den Besitzer der Stimme, der hinter der niedrigen Reling des Achterkastells stand und ihr aufgeregt mit dem linken Arm zuwinkte. Unter den rechten Arm hatte er den plumpen eisernen Helm geklemmt, der seine Rüstung vervollständigte. Das kostbare Bastardschwert, seine Lieblingswaffe, baumelte an einem silberbeschlagenen Wehrgehänge an seiner Seite. Über seine Brust lief ein breiter Lederriemen, mit dessen Hilfe er seinen wuchtigen dreieckigen Schild auf den Rücken geschnallt tragen konnte.
    Als Robin sich von ihrem Platz an der Reling löste und sich durch das Gedränge an Deck ihren Weg nach achtern bahnte, bemerkte sie die anderen Tempelritter auf dem erhöhten Achteraufbau. Unter ihnen befanden sich Heinrich, Xavier und der greise Tobias. Alle, die von jener Schar noch übrig geblieben waren, mit der sie einst die kleine friesische Komturei verlassen hatte. Sie waren ausnahmslos in Rüstung und Waffen. Vielleicht hätte sie Abbés Aufforderung doch etwas mehr beherzigen sollen. Aber nun war es zu spät.
    Zumindest Abbé schien keinen Anstoß an ihrem unvollständigen Aufzug zu nehmen. Als sie mühsam die kurze, steile Treppe zum
    Achterdeck hinaufstieg, streckte er ihr hilfreich die Hand entgegen, und Robin nahm das Angebot dankbar an. Obgleich Abbé vermutlich mindestens dreimal so alt wie sie selbst war, war sein Griff so fest, dass er sie mehr zu sich heraufhob, als dass sie aus eigener Kraft ging. Robin verzog schmerzhaft die Lippen. Abbé zwinkerte ihr kurz zu. Mit seiner kurzbeinigen Statur, dem ansehnlichen Schmerbauch und den Stummelfingern hätte er vermutlich wie die typische Witzfigur des dicken Mönchleins ausgesehen, den beim heiligen Abendmahl vor allem der Messwein interessierte, wären da nicht der strahlende Waffenrock des Templerritters gewesen und eine Härte in seinen Zügen, die verriet, dass er in seinem Leben mehr gesehen hatte, als sich ein einfacher Mönch in seinen kühnsten Albträumen auszumalen vermochte.
    Ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren, ließ er ihre Hand los, trat einen halben Schritt zurück und legte ihr dann die flache Hand auf die Stirn. »Euer Fieber scheint vorbei zu sein«, sagte er laut. »Ich bin froh, dass es Euch besser geht.«
    »Fieber?« Robin blinzelte verständnislos. »Aber ich hatte kein…« Sie brach ab, als sie Abbés warnenden Blick auffing, und schalt sich in Gedanken eine Närrin. Bruder Abbé wusste sehr wohl, dass sie kein Fieber gehabt hatte, sondern ihr nur die Seekrankheit zu schaffen machte. Aber sie waren nicht allein auf dem Achterdeck, und die Worte galten auch gar nicht ihr, sondern
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