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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur
Autoren: Dimitri Stachow
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fest zusammengepresst, doch die Wangen röten sich leicht. Und die Pupillen verengen sich. Sie hat alles begriffen.
     
    »Du solltest sie sich noch küssen lassen!«, sagt Vitjascha grinsend.
    »Langsam, langsam«, erwidert Kulagin und stellt sich wie der Schiedsrichter bei einem Schachmatch an die Seite des Tisches: Gleich wird er die Uhr in Gang setzen.
    »Nun, Genosse«, sagt Kulagin, »bald bricht deine Sternstunde an. Mach dich bereit!«
    »Er ist ja schon bereit!« Vitjascha lacht wiehernd, steckt seine Hand in die Jackentasche, holt einen Flachmann heraus, schraubt den Deckel ab, wirft den Kopf zurück und nimmt einen geräuschvollen Schluck. »Ja, ist er!« Er rülpst, er fühlt sich sehr wohl. »Bloß noch die Hosen wechseln, und alles ist in bester Ordnung.«
    »Vitjascha«, tadelt Kulagin den Breitschultrigen, »hier ist eine Dame!«
    »Des öffentlichen Dienstes?« Vitjascha wiehert wieder.
    Ich springe auf, aber Vitjascha, der durchtrainierte Mistkerl, stößt mir spielerisch seinen Ellbogen in den Leib. Ich schnappe nach Luft. Vitjascha grapscht mit schweißiger Hand nach meinem Gesicht und zwingt mich auf den Stuhl zurück. Vor Abscheu und Erniedrigung bin ich nahe daran loszuheulen, ich lasse den Kopf hängen und vermeide es, Tanja meine Augen sehen zu lassen.
    Vitjascha klatscht mir auch noch seine Hand ins Genick, als erschlage er eine Mücke. Von diesem Schlag fliegt mir fast der Kopf von den Schultern.
    »Sachte, sachte!«, meint Kulagin lächelnd. »Wenn der Chef kommt, sagt er, was zu tun ist. Nicht den Bogen überspannen, Vitjascha!«
    »Tu ich ja nicht.« Vitjascha schraubt den Deckel auf seinen Flachmann und steckt ihn wieder ein. »War bloß ein Klaps. Damit er’s spürt!«
    »Er spürt schon alles!«, sagt Kulagin.
    Seine Hand legt sich auf meine Metallkugel, er beginnt sie über die Tischplatte zu rollen. Hinter der Kugel schlängelt sich eine Spur durch den Staub. Ich bin sehr bedrückt. Nie hätte ich gedacht, dass alles so enden würde. Alles, nur nicht das. Deshalb rinnen mir nun doch Tränen die Nasenflügel hinab, eine nach der anderen tropfen sie auf den Fußboden.
    Vitjascha brummt etwas, Kulagin lässt die Kugel in Ruhe, tritt zu mir heran und hockt sich hin.
    »Genosse! Was ist mit dir? Machst du schlapp? Reiß dich zusammen! Du musst auf dich Acht geben! Du willst doch nicht so enden wie dein Papachen? Oder?«
    Die Kugel setzt ihre Bewegung über den Tisch fort, kommt mir näher und näher. Jetzt berührt sie die Obstschale und ändert leicht ihre Bahn. Vitjascha hält die Kugel an, dann lässt er sie weiterrollen.
    »Ich hatte die ganze Zeit ein Auge auf dich, ich habe auch dein Papachen ausfindig gemacht. Und keiner wollte mir glauben! Dieses Kätzchen, das habe ich ebenfalls ausfindig gemacht.« Kulagin deutet mit dem Kopf auf Tanja. »Du hast doch Gefallen an ihr gefunden, nicht wahr, Genosse?«
    Die Kugel rollt dicht am Tischrand entlang, gleich wird sie herunterfallen. Rein instinktiv strecke ich meine Hand aus, fange die Kugel auf – sie ist sehr schwer und kalt – und werfe sie leicht hoch. Vitjascha dreht sich weg, zieht ächzend seinen Gürtel zurecht, kratzt sich, schnauft vor Vergnügen.
    »Na, hast du Gefallen an ihr gefunden?«, wiederholt Kulagin. »Ich will sie auch mal ausprobieren. Als Organisator dieser ganzen großartigen Operation. Aber nur mit deiner Genehmigung, natürlich nur mit deiner Genehmigung!« Er hebt ergeben seine Hände hoch, ich aber hole kurz aus und donnere ihm die Kugel mitten auf die Stirn.
    Kulagin fällt auf den Rücken. Tanja kreischt auf, ich schnelle hoch und wende mich Vitjascha zu. Der steht schon mit dem Gesicht zu mir, hat jedoch keine Hand frei – mit der einen hält er die Hosen fest, die andere steckt hinterm Hosenbund. Sein Gesicht bewahrt den Ausdruck von Seligkeit, aus irgendeinem Grund fängt er auch noch an zu lächeln, als plötzlich ein Stuhl auf seinen Kopf niedersaust: Tanja, immer noch kreischend, ist mit vor Anstrengung hochrotem Gesicht in Aktion getreten.
     
    Jahrelang hatte ich davon geträumt, einen Überraschungscoup gegen Baibikow zu landen, ihn ins Garn zu locken und zu erniedrigen. Ich träumte fast jede Nacht von ihm, und mir war, als müsste er jeden Augenblick aus dem Traum heraustreten, und dann würde es ihm schlecht ergehen. Ich glaubte daran, dass sich mir früher oder später diese Gelegenheit bieten würde. Sie bot sich mir auch, doch stellte sich heraus, dass das, was ich getan hatte, keine
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