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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur
Autoren: Dimitri Stachow
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für den Rest seines Lebens sichern. Und seine Kinder und Enkel und die Enkel der Enkel gleich mit versorgen.
    Es handelte sich um Kontonummern der ausländischen Banken, bei denen Parteigelder deponiert waren, Bescheinigungen über Vermögensübertragungen, Dokumente über Firmen, in denen Parteigelder gewaschen wurden, Berichte über die Ausbildung von Kämpfern. Deren Anführer, die unter Fahnen mit dem Hakenkreuz oder mit Runen drauf thronten und Ordnung zu schaffen und mit der Überfremdung Schluss zu machen versprachen, ahnten wohl kaum, dass ihre Trupps aus der alten Parteikasse finanziert wurden und für das Inganghalten dieser ganzen Maschinerie ehemalige Staatssicherheitsleute sorgten – ihre wahre Führung. Söhne ehemaliger Kollegen meines Vaters.
    »Hast du kapiert?!«, schrie Sascha triumphierend, als auf dem Fotopapier Zahlenkolonnen, Namen und Adressen sichtbar wurden, stockte jedoch und warf mir einen schrägen Blick zu.
    »Habe ich.« Ich nickte.
    »Und du wolltest nicht! Wir treten damit ein Ding los! Du musst vor allem auf mich hören! Hör auf mich, und alles wird bestens sein!«
    Er fischte aus dem Entwickler ein Blatt und hielt es ins Rotlicht. Seine Brauen krochen erstaunt nach oben, der Mund öffnete sich.
    »Was ist da noch?«, fragte ich.
    Er schluckte krampfhaft, zerriss schnell das Blatt und warf die Schnipsel auf den Fußboden.
    »Mach dein Büdchen zu!«, rief er. »Schalt das Licht an! Lass mich raus! Ich fahre los!« Er nahm den Mikrofilm aus dem Vergrößerungsapparat und begann ihn zusammenzurollen.
    »Was ist da drauf?«, fragte ich wieder.
    »Da ist von dem Schwein die Rede, dem ich meine Abservierung verdanke. Ich werde ihn vernichten, einen nassen Fleck mache ich aus ihm, ich …« Die Stimme versagte ihm im Gefühlsüberschwang. »Schluss! Aus!«
    Ich schaltete das Licht an. Seine Augen brannten, seine Wangen färbte fieberhafte Röte.
    »Du bleibst hier. Ich bin bald wieder da. Und bringe ein paar Aufnahmen mit. Arbeit für uns beide. Denk dran – wenn du dein Studio verlässt, bist du geliefert. Keine zwei Schritte weit kommst du. Schließ alles ab. Und verhalt dich still!«
    »Du hast versprochen, wenn ich die Dokumente rausrücke, lässt du mich in Ruhe«, sagte ich.
    »Hör mal« – er packte mit eisernem Griff meine Schulter, zog mich zu sich heran und hauchte mir seinen fauligen Atem ins Gesicht –, »spiel nicht die Unschuld vom Lande. Ich habe begriffen, wer du bist. Das haben auch andere begriffen. Du hast für sie gearbeitet. Sie werden dich nicht am Leben lassen. Mir aber kannst du vertrauen. Unser Zusammenhalt wird so fest sein wie bei siamesischen Zwillingen. Verlass dich auf mich! In einer Stunde bin ich zurück. Abgemacht?«
    Ich hatte keine andere Wahl, als zuzustimmen.
    Es verging eine Stunde, eine zweite. Ich verhielt mich still, ging nicht an die Fenster. Das Telefon schwieg. Dann wurde es dunkel.
     
    Ich wusste eigentlich schon, wen ich auswählen, von wessen Foto ich das erste Negativ herstellen würde. Als ich die Dunkelkammer betrat, lag es bereits auf dem Arbeitstisch, in der Hand hielt ich den belichteten Film: sechsunddreißig Aufnahmen, ich wollte sechsunddreißig Negative herstellen, jedes Bild und jedes Negativ wollte ich mir einzeln vornehmen. Ich wollte ganz sichergehen.
    Als ich meine Arbeit beendete, war es endgültig dunkel geworden. Bald musste Tanja hier sein. Der Glatzkopf rief nicht an und kam nicht. Ich überlegte, dass er sich jetzt irgendwo bei hochgestellten Persönlichkeiten aufhielt, dass er entlarvte, bloßstellte, anprangerte. Ich verspürte Hunger und briet mir Spiegeleier, bekam jedoch keinen Bissen herunter.
    Kulagin löst die Handschelle von Tanjas Hand, macht seine eigene frei und reibt sich theatralisch – seht mal, wie das gedrückt hat! – das Handgelenk. Vitjascha steht neben mir, seine Lederjacke ist aufgeknöpft, darunter ist Riemenzeug mit einem Halfter zu sehen. Er riecht nach Kölnischwasser und schweißiger, lange nicht gewaschener Haut. Vitjaschas beim Rasieren abgeschnittene Pickel unter dem Kinn liegen himbeerfarben zwischen Bartstoppeln verstreut. Er ist sehr zufrieden mit sich und beobachtet mit süffisantem Lächeln, wie Kulagin Tanja mir gegenübersetzt. Sie blickt zur Seite und sieht die Ergebnisse meiner letzten Retuscheurarbeit. Das ganze Foto kann sie nicht sehen, aber ihre Augen verraten mir: Sie hat mein Selbstporträt erkannt. Kein Muskel in ihrem Gesicht regt sich, ihre Lippen sind nach wie vor
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