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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd
Autoren: Margaret Atwood
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Herausgeber hinausgehende Randbemerkung gestattet ist, erlauben Sie mir zu sagen, daß wir meiner Meinung nach Vorsicht walten lassen sollten, ehe wir die Gileader moralisch verurteilen. Sicherlich haben wir inzwischen gelernt, daß solche Urteile notwendigerweise kulturspezifisch sein müssen. Zudem stand die gileadische Gesellschaft unter einem beträchtlichen Druck, demographisch und auch sonst, und war Faktoren unterworfen, von denen wir glücklicherweise freier sind. Unsere Aufgabe besteht nicht darin zu tadeln, sondern zu verstehen. (Applaus.)
    Um von meiner Abschweifung zurückzukehren: Tonbandmaterial wie dieses läßt sich allerdings nur sehr schwer überzeugend fälschen, und von den Experten, die sie untersucht haben, wurde uns versichert, daß die Bänder, physisch gesehen, echt sind. Die Aufnahme selbst, das heißt, die Aufnahme des gesprochenen Texts auf das Tonband, könnte zweifelsohne nicht innerhalb der letzten einhundertfünfzig Jahre bewerkstelligt worden sein.
    Angenommen also, die Bänder seien echt, wie steht es dann mit der Natur des Berichts selbst? Ganz offenkundig kann er nicht zu der Zeit, von der er erzählt, aufgenommen worden sein, denn falls die Autorin die Wahrheit sagt, dürften ihr weder Aufnahmegerät noch Bänder zur Verfügung gestanden haben, noch hätte sie ein Versteck dafür finden können. Zudem ist das Erzählerische durch gewisse reflektive Elemente gekennzeichnet, die meiner Ansicht nach eine Synchronität ausschließen. Dem Bericht haftet ein Hauch von Emotionalem an, der, wenn schon nicht in einer ruhigen Gemütslage, so doch zumindest post facto eingefangen worden sein muß.
    Wenn wir für die Erzählerin eine Identität etablieren könnten, so sagten wir uns, befänden wir uns auf dem besten Wege zu einer Erklärung, wie dieses Dokument – lassen Sie es mich um der Kürze willen so nennen – entstand. Zu diesem Zweck haben wir zwei Wege der Nachforschung beschritten.
    Zunächst versuchten wir, mit Hilfe alter Stadtpläne von Bangor und anderer erhaltener Dokumente, die Einwohner des Hauses zu identifizieren, das zu jener Zeit etwa am Fundort gestanden haben muß. Möglicherweise, so überlegten wir, könnte dieses Haus ein »sicheres Haus« auf der Untergrund-Frauenstraße während unserer Periode gewesen sein, und unsere Autorin könnte dort einige Wochen oder Monate beispielsweise auf dem Dachboden oder im Keller versteckt worden sein und hätte in dieser Zeit die Gelegenheit gehabt, die Aufnahmen zu machen. Natürlich konnte die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß die Bänder nach der Aufnahme an den betreffenden Fundort gebracht wurden. Wir hofften, es könnte uns gelingen, die Nachkommen der hypothetischen Hausbewohner aufzuspüren und zu lokalisieren. Sie würden uns, so hofften wir, zu weiterem Material führen können: Tagebücher vielleicht oder sogar Familienanekdoten, die von Generation zu Generation weitererzählt worden waren.
    Unglücklicherweise führte diese Spur zu keinem Ziel. Möglicherweise waren diese Menschen, falls sie wirklich ein Glied in der Untergrundkette gewesen waren, entdeckt und verhaftet worden. In diesem Fall würde jede auf sie Bezug nehmende Dokumentation vernichtet worden sein. So entschieden wir uns für einen zweiten Ansatzpunkt. Wir suchten Unterlagen aus der betreffenden Periode und versuchten, bekannte historische Persönlichkeiten mit den Personen, die in dem Bericht unserer Autorin auftreten, in Übereinstimmung zu bringen. Die erhaltenen Unterlagen der Zeit sind lückenhaft, da das Regime von Gilead die Angewohnheit hatte, nach verschiedenen Säuberungen und inneren Unruhen, die eigenen Computerprogramme zu löschen und alle Ausdrucke zu vernichten. Einige Ausdrucke sind jedoch erhalten. Sie wurden nämlich nach England geschmuggelt, zu Reklamezwecken für verschiedene Gesellschaften zur Rettung der Frauen, die auf den Britischen Inseln zu jener Zeit so zahlreich waren.
    Wir hegten nicht länger die Hoffnung, der Autorin selbst unmittelbar auf die Spur zu kommen. Aus den vorhandenen Dokumenten ging eindeutig hervor, daß sie zu der ersten Welle von Frauen gehörte, die für Reproduktionszwecke rekrutiert und jenen zugewiesen wurden, die solcher Dienste einerseits bedurften und die andererseits dank ihrer Stellung innerhalb der Elite auch einen Anspruch darauf hatten. Das Regime schaffte eine sofortige Reserve solcher Frauen kraft der einfachen Taktik, alle Zweitehen und nicht-ehelichen Verbindungen für
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