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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd
Autoren: Margaret Atwood
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erinnerte. (Gelächter, Applaus.)
    Der Gegenstand unserer Forschungen – ich zögere, das Wort Dokument zu verwenden – wurde auf dem Gelände der einstigen Stadt Bangor ausgegraben, in einem Gebiet also, das, vor der Gründung des Gileadischen Regimes, der Staat Maine gewesen sein dürfte. Wir wissen, daß diese Stadt eine bedeutende Zwischenstation auf dem Weg war, den unsere Autorin als die »Untergrund-Frauenstraße« bezeichnet, was inzwischen einige unserer historischen Spaßvögel zu »Untergrund-Frauenstrich« verballhornt haben. (Gelächter, Stöhnen.) Aus diesem Grunde hat unsere Vereinigung ein besonderes Interesse daran genommen.
    Der Gegenstand unserer Forschungen bestand in seinem jungfräulichen Zustand aus einer Metallkiste der U.S.-Armee, hergestellt vielleicht um 1955. Dieser Umstand hat an sich keinerlei Bedeutung, da bekannt ist, daß solche Kisten häufig als »überschüssige Armeebestände« verkauft wurden und deshalb weit verbreitet gewesen sein dürften. In dieser Kiste, die mit Klebeband zugeklebt war, wie es früher für Postpakete verwendet wurde, befanden sich annähernd dreißig Tonbandkassetten eines Typs, der irgendwann in den achtziger oder neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Compact Disc veraltete.
    Ich darf Sie daran erinnern, daß es nicht der erste Fund dieser Art war. Sie sind zweifellos beispielsweise mit dem Gegenstand vertraut, der unter der Bezeichnung »Die A.B.-Memoiren« bekannt ist und in einer Garage in einem Vorort von Seattle gefunden wurde, sowie mit dem »Tagebuch von R«, das zufällig beim Bau eines neuen Versammlungshauses in der Nachbarschaft der früheren Stadt Syracuse im Staate New York ausgegraben wurde.
    Professor Wade und ich fühlten uns durch diese neue Entdeckung sehr stimuliert. Glücklicherweise hatten wir mehrere Jahre zuvor mit Hilfe unseres ausgezeichneten ortsansässigen Antiquartechnikers ein Gerät rekonstruiert, mit dem solche Bänder abgespielt werden können, und so machten wir uns unverzüglich an die mühselige Arbeit der Transkription.
    Es waren alles in allem rund dreißig Bänder, mit variierendem Verhältnis von Musik zu gesprochenem Wort. Im allgemeinen beginnt jedes Band mit zwei oder drei Songs, eine Maßnahme der Tarnung zweifellos. Dann bricht die Musik ab, und die sprechende Stimme ergreift das Wort. Es ist die Stimme einer Frau und zwar, unseren Stimm-Druck-Experten zufolge, durchgehend dieselbe Stimme. Die Labels auf den Kassetten waren authentische historische Labels. Sie datierten, natürlich, aus der Zeit vor Beginn der Frühen Gileadischen Ära, denn unter dem Regime war alle säkulare Musik dieser Art verboten. Es gab zum Beispiel vier Bänder mit dem Titel »Elvis Presley's Golden Years«, drei mit »Litauische Volkslieder«, drei »Boy George Takes It Off« und zwei »Mantovani's Mellow Strings«, sowie einige Titel, die jeweils nur ein einziges Band füllten: »Twisted Sister at Carnegie Hall« ist eins, das mir besonders gut gefällt.
    Zwar waren die Labels authentisch, doch waren sie nicht immer an der Kassette mit den entsprechenden Songs angebracht. Außerdem waren die Kassetten in keiner besonderen Reihenfolge angeordnet, da sie lose auf dem Boden der Kiste lagen, und sie waren auch nicht numeriert. So war es an Professor Wade und mir, die Textblöcke in die Ordnung zu bringen, in die sie zu gehören schienen; alle diese Zuordnungen sind jedoch, wie ich schon an anderer Stelle bemerkte, auf Vermutungen gegründet und deshalb so lange als vorläufig zu betrachten, bis weitere Forschungsergebnisse vorliegen werden.
    Nachdem wir dann die Transkription in Händen hielten – und wir mußten sie mehrere Male überarbeiten, da Akzent, undeutliche Verweise und Archaismen große Schwierigkeiten boten –, mußten wir einige Entscheidungen über die Natur des Materials treffen, das wir so mühsam erarbeitet hatten. Mehrere Möglichkeiten stellten sich uns dar. Erstens: die Bänder konnten eine Fälschung sein. Wie Sie wissen, hat es mehrere Fälle solcher Fälschungen gegeben, für die Verlage große Summen gezahlt haben, wobei sie zweifellos auf den Sensationswert solcher Geschichten setzten. Es hat den Anschein, daß bestimmte Perioden der Geschichte sowohl für andere Gesellschaften als auch für jene, die ihnen folgen, schnell Stoff für nicht gerade erbauliche Legenden und reichlich genutzte Gelegenheit zu heuchlerischer Selbstbelobigung werden. Falls mir eine kleine, über meine Aufgabe als
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