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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd
Autoren: Margaret Atwood
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Frau gewesen zu sein, soweit man eine Absolventin eines nordamerikanischen Colleges jener Zeit als gebildet bezeichnen kann. (Gelächter, Stöhnen.) Doch solche Frauen gab es wie Sand am Meer, also ist auch dies kein Anhaltspunkt. Sie hält es nicht für angebracht, uns ihren ursprünglichen Namen anzugeben, und alle offiziellen Unterlagen über sie dürften bei ihrem Eintritt ins Rachel-und-Lea-Umerziehungszentrum vernichtet worden sein. »Desfred« gibt keinen Anhaltspunkt, denn wie »Desglen« und »Deswarren« war es ein Patronymikum, das aus dem Possessivartikel und dem Namen des betreffenden Herrn gebildet wurde. Solche Namen wurden von den Frauen bei ihrem Eintritt in eine Verbindung mit dem Haushalt eines spezifischen Kommandanten angenommen und, wenn sie ihn verließen, wieder aufgeben.
    Die anderen Namen in dem Dokument sind gleichfalls unbrauchbar für Zwecke der Identifikation und Authentisierung. »Luke« und »Nick« geben nichts her, »Moira« und »Janine« ebensowenig. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren diese Namen ohnehin Pseudonyme, von der Autorin gewählt, um diese Personen für den Fall einer Entdeckung der Bänder zu schützen. Wenn dies zuträfe, würde es unsere Ansicht unterstützen, daß die Bänder innerhalb der Grenzen Gileads besprochen wurden, und nicht außerhalb, um dann zum Gebrauch des Mayday-Untergrunds wieder ins Land geschmuggelt zu werden.
    Nach dem Ausscheiden der oben erwähnten Möglichkeiten blieb uns nur noch eine einzige. Würde es gelingen, den schwer faßbaren Kommandanten zu identifizieren, so meinten wir, wäre zumindest ein gewisser Fortschritt erreicht. Wir sagten uns, daß eine so hochgestellte Persönlichkeit höchstwahrscheinlich Teilnehmer der ersten, streng geheimen Strategieseminare der »Söhne Jakobs« gewesen war, bei denen die Philosophie und die Sozialstruktur Gileads erarbeitet wurden. Diese Seminare fanden kurz nach der Anerkennung des Rüstungspatts der Supermächte und der Unterzeichnung des geheimen Einflußsphären-Abkommens statt, das den Supermächten die Freiheit gab, ungehindert durch ein Eingreifen anderer die wachsende Anzahl von Rebellionen innerhalb ihrer eigenen Imperien zu bewältigen. Die offiziellen Protokolle der Versammlungen der Söhne Jakobs vernichtete man nach der großen Säuberung in der mittleren Periode, bei der eine Anzahl der ursprünglichen Gründer Gileads diskreditiert und liquidiert wurden. Allerdings haben wir Zugang zu einigen Informationen dank des Tagebuches, das Wilfred Limpkin, einer der bei den Sitzungen anwesenden Soziobiologen, in Geheimschrift geführt hat. (Wie wir wissen, wurde die soziobiologische Theorie von der natürlichen Polygamie als wissenschaftliche Rechtfertigung für einige der seltsameren Praktiken des Regimes benutzt, ähnlich wie von früheren Ideologien der Darwinismus mißbraucht wurde.)
    Aus dem Material von Limpkin wissen wir, daß es zwei mögliche Kandidaten gibt, das heißt, zwei, deren Namen das Element »Fred« enthalten: Frederick R. Waterford und B. Frederick Judd. Von beiden sind keine Fotos erhalten; den letzteren allerdings beschreibt Limpkin als »ausgestopftes Hemd« und als jemanden, ich zitiere, »für den Vorspiel etwas ist, was man auf einem Golfplatz macht«. (Gelächter.) Limpkin selbst hat die Gründung Gileads nicht lange überlebt, und wir sind nur deshalb im Besitz seines Tagebuches, weil er sein eigenes Ende vorhersah und das Tagebuch bei seiner Schwägerin in Calgary deponierte.
    Sowohl Waterford als auch Judd haben Eigenschaften, die für sie sprechen. Waterford hatte sich früher in der Marktforschung betätigt, und war, Limpkin zufolge, verantwortlich für den Entwurf der Frauentrachten und für den Vorschlag, die Mägde Rot tragen zu lassen, was er von den Uniformen der deutschen Kriegsgefangenen in kanadischen POW-Lagern im Zeitalter des Zweiten Weltkrieges übernommen zu haben scheint. Er scheint auch der Urheber des Wortes Partizikution gewesen zu sein: Er entlehnte es einem gewissen Gymnastikprogramm, das sich irgendwann im letzten Drittel des Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute. Die kollektive Seilzeremonie dagegen ging auf einen ländlichen englischen Brauch des siebzehnten Jahrhunderts zurück. Das »Erretten« könnte ebenfalls seine Erfindung gewesen sein, obwohl es sich zur Zeit der Gründung Gileads bereits von seinen philippinischen Ursprüngen entfernt hatte und ein allgemeiner Begriff für die Eliminierung politischer Feinde geworden war. Wie ich
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