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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd
Autoren: Margaret Atwood
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sie mögen: Volkskunst, archaisch, von Frauen in ihrer Freizeit gemacht, aus Dingen, die sonst nicht mehr zu gebrauchen sind. Eine Rückkehr zu traditionellen Werten. Nichts entbehrt, wer der Verschwendung wehrt. Ich werde nicht verschwendet. Warum entbehre ich so viel?
    An der Wand über dem Stuhl ein Bild, gerahmt, aber ohne Glas: Blumen, blaue Iris, die Reproduktion eines Aquarells. Blumen sind noch erlaubt. Ob alle von uns das gleiche Bild haben, den gleichen Stuhl, die gleichen weißen Vorhänge? Eigentum der Regierung?
    Stellt euch vor, ihr wärt beim Militär, sagte Tante Lydia.
    Ein Bett. Schmal, die Matratze mittelhart, darüber eine weiße Wollflockendecke. Nichts spielt sich in diesem Bett ab als Schlaf. Oder Schlaflosigkeit. Ich versuche, nicht zu viel zu denken. Wie manches andere neuerdings muß auch das Denken rationiert werden. Es gibt vieles, was kein Nachdenken verträgt. Nachdenken kann dir die Chancen verderben, und ich beabsichtige durchzuhalten. Ich weiß, warum vor dem Aquarell mit der blauen Iris kein Glas ist, und warum das Fenster sich nur einen Spaltbreit öffnen läßt, und warum die Fensterscheibe aus bruchsicherem Glas ist. Daß wir weglaufen, davor haben sie keine Angst. Wir würden nicht weit kommen. Es sind die anderen Fluchtwege, die, die wir in uns selbst öffnen können, sofern ein scharfer Gegenstand zur Hand ist.
    Nun ja. Abgesehen von solchen Kleinigkeiten, könnte dies ein Gästezimmer in einem College sein, für die weniger vornehmen Besucher. Oder ein Zimmer in einer Pension, wie es sie in früheren Zeiten gab, für Damen in beschränkten Verhältnissen. Genau das sind wir jetzt. Die Verhältnisse sind beschränkt worden – für diejenigen von uns, die noch Verhältnisse haben.
    Immerhin, ein Stuhl, Sonne, Blumen: das darf man nicht von der Hand weisen. Ich bin am Leben, ich lebe, ich atme, ich strecke die Hand aus, geöffnet, ins Sonnenlicht. Ich bin hier nicht im Gefängnis, sondern ich genieße ein Privileg, wie Tante Lydia sagte, die in das Entweder-Oder verliebt war.
     
    Die Glocke, die die Zeit mißt, schlägt. Die Zeit wird hier mit Glocken gemessen, wie einstmals in Nonnenklöstern. Ebenfalls wie im Nonnenkloster gibt es hier nur wenige Spiegel.
    Ich stehe von meinem Stuhl auf und schiebe die Füße vorwärts ins Sonnenlicht, in ihren roten Schuhen, die keine Tanzschuhe sind, sondern flache Absätze haben, weil das besser für die Wirbelsäule ist. Die roten Handschuhe liegen auf dem Bett. Ich nehme sie und streife sie über die Hände, Finger für Finger. Alles, außer den Flügeln, die mein Gesicht umgeben, ist rot: die Farbe des Blutes, die uns kennzeichnet. Der Rock ist knöchellang, weit, zu einer flachen Passe gerafft, die sich über die Brüste spannt; die Ärmel sind weit. Die weißen Flügel sind ebenfalls vorgeschrieben: Sie sollen uns am Sehen hindern, aber auch am Gesehenwerden. Rot hat mir noch nie gestanden, es ist nicht meine Farbe. Ich nehme den Einkaufskorb und hänge ihn mir über den Arm.
    Die Tür des Zimmers – nicht meines Zimmers, ich weigere mich, mein zu sagen – ist nicht zugeschlossen. Sie schließt nicht einmal richtig. Ich gehe hinaus in den gebohnerten Flur. In der Mitte ein Läufer, blaßrosa. Wie ein Pfad durch den Wald, wie ein Teppich für königlichen Besuch weist er mir den Weg.
    Der Läufer knickt ab und führt die Treppe hinunter, und ich folge ihm, eine Hand auf dem Geländer, das einst ein Baum war und in einem anderen Jahrhundert gedrechselt und zu warmem Glanz gerieben wurde. Spätviktorianisch ist das Haus, ein Familienwohnhaus, für eine große, reiche Familie erbaut. In der Diele steht eine großväterliche Standuhr, die Zeit austeilt, und dann kommt die Tür zu dem matronenhaften Wohnzimmer mit seinen fleischfarbenen Tönen und Anspielungen. Ein Wohnzimmer, in dem ich nicht wohne, sondern nur stehe oder knie. Am Ende der Diele, über der Haustür, befindet sich ein fächerförmiges Buntglasfenster: Blumen, rote und blaue.
    Bleibt noch der Spiegel, an der Dielenwand. Wenn ich den Kopf so drehe, daß die weißen Flügel, die mein Gesicht rahmen, meinen Blick in seine Richtung lenken, kann ich ihn sehen, während ich die Treppe hinuntergehe, rund, konvex, ein Pfeilerspiegel, wie ein Fischauge, und mich selbst darin, ein verzerrter Schatten, eine Parodie, eine Märchengestalt in einem roten Umhang, absteigend zu einem Moment der Unbekümmertheit, die das gleiche ist wie Gefahr. Eine Ordensschwester, in Blut getaucht.
    Am
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