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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd
Autoren: Margaret Atwood
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gehalten. In Wirklichkeit wollte ich nur die Zigarette.
    Vielleicht war es ein Test, vielleicht wollte er sehen, was ich tun würde.
    Vielleicht ist er ein Auge.
     
    Ich öffne das vordere Gartentor und schließe es hinter mir, blicke zu Boden, aber nicht zurück. Der Bürgersteig ist aus rotem Ziegelstein. Auf diese Landschaft richte ich den Blick: ein Feld von Rechtecken, sanft gewellt, wo die Erde darunter eingesackt ist von jahrzehntelangem Winterfrost. Das Rot der Ziegelsteine ist alt und doch frisch und klar. Die Bürgersteige werden sehr viel sauberer gehalten als früher.
    Ich gehe bis zur Straßenecke und warte. Früher konnte ich nicht gut warten. Auch jene dienen, die nur stehen und warten, sagte Tante Lydia. Sie ließ uns die Zeile auswendig lernen. Sie sagte auch: Nicht alle von euch werden es schaffen. Etliche von euch werden auf trockenen Boden oder unter die Dornen fallen. Etliche von euch sind nicht tief genug verwurzelt. Sie hatte ein Muttermal am Kinn, das auf und ab hüpfte, während sie sprach. Sie sagte: Stellt euch vor, ihr seid Samen, und dabei wurde ihre Stimme schmeichlerisch, verschwörerisch, wie früher die Stimmen der Frauen, die Kindern Ballettunterricht gaben und die immer sagten: Und jetzt die Arme hoch in die Luft, jetzt tun wir so, als wären wir alle Bäume!
    Ich stehe an der Ecke, und tue so, als wäre ich ein Baum.
     
    Eine Gestalt, rot, mit weißen Flügeln um das Gesicht, eine Gestalt wie ich, eine nicht näher zu beschreibende Frau in Rot, die einen Korb trägt, kommt über den Ziegelsteinbürgersteig auf mich zu. Sie erreicht mich, und wir spähen einander ins Gesicht, durch die weißen Stofftunnel, die uns einschließen. Sie ist die richtige.
    »Gesegnet sei die Frucht«, sagt sie zu mir – der übliche Gruß unter uns.
    »Möge der Herr uns öffnen«, erwidere ich, – die übliche Antwort. Wir drehen uns um und gehen zusammen an den großen Häusern vorbei in Richtung des Zentrums der Stadt. Wir dürfen nur zu zweit in die Stadt gehen. Diese Bestimmung dient angeblich unserem Schutz, obwohl die Vorstellung absurd ist: wir sind ohnehin bestens geschützt. In Wahrheit ist sie meine Spionin, so wie ich ihre bin. Falls eine von uns wegen irgendeines Vorkommnisses bei einem unserer täglichen Gänge durch das Netz schlüpft, wird die andere dafür zur Verantwortung gezogen werden.
    Diese Frau ist seit zwei Wochen meine Partnerin. Ich weiß nicht, was mit ihrer Vorgängerin passiert ist. Von einem bestimmten Tag an war sie einfach nicht mehr da, und statt ihrer erschien diese. So etwas gehört nicht zu den Dingen, nach denen man fragt, denn die Antworten sind in der Regel Antworten, die man lieber nicht wissen will. Außerdem würde es gar keine Antworten geben.
    Diese ist ein wenig rundlicher als ich. Ihre Augen sind braun. Ihr Name ist Desglen, und das ist ungefähr alles, was ich über sie weiß. Sie geht sittsam, den Kopf gesenkt, die rotbehandschuhten Hände übereinandergelegt, mit kurzen Schrittchen wie ein dressiertes Schwein, das auf den Hinterbeinen läuft. Bei unseren Gängen hat sie noch nie irgend etwas gesagt, was nicht streng orthodox gewesen wäre. Andererseits habe ich das auch nicht getan. Vielleicht ist sie eine echte Gläubige, eine Magd nicht nur dem Namen nach. Ich kann das Risiko nicht eingehen.
    »Der Krieg geht gut, höre ich«, sagt sie.
    »Lob sei dem Herrn«, erwidere ich.
    »Gutes Wetter ist uns gesandt worden.«
    »Ich empfange es mit Freuden.«
    »Sie haben seit gestern noch weitere Rebellen geschlagen.«
    »Lob sei dem Herrn«, sage ich. Ich frage sie nicht, woher sie das weiß. »Was für welche waren es?«
    »Baptisten. Sie hatten eine Hochburg in den Blauen Bergen. Man hat sie ausgeräuchert.«
    »Lob sei dem Herrn.«
    Manchmal wünschte ich, sie würde den Mund halten und mich in Frieden meinen Spaziergang machen lassen. Aber ich bin hungrig auf Nachrichten, jede Art von Nachrichten; selbst wenn es gefälschte Nachrichten sind, müssen sie etwas bedeuten.
    Wir erreichen die erste Sperre. Sie sieht aus wie die Absperrungen bei Straßenarbeiten oder aufgegrabenen Abwasserkanälen: Holzkreuze, bemalt mit gelben und schwarzen Streifen, ein rotes Sechseck, das Halt bedeutet. Neben dem Durchgang stehen einige Laternen, die jetzt nicht brennen, weil nicht Nacht ist. Über uns, das weiß ich, sind an den Telefonmasten Flutlichtscheinwerfer angebracht, für Notfälle, und in den Bunkern zu beiden Seiten der Straße stehen Männer mit
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