Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
Grün der Marthas, manche in den gestreiften Kleidern, rot und blau und grün und billig und knapp, die die Frauen der ärmeren Männer kennzeichnen. Ökonofrauen werden sie genannt. Diese Frauen sind nicht für bestimmte Aufgaben eingeteilt. Sie müssen alles tun; wenn sie können. Manchmal sieht man eine Frau ganz in Schwarz, eine Witwe. Früher gab es sehr viel mehr von ihnen, aber ihre Zahl scheint abzunehmen.
    Die Frauen der Kommandanten sieht man nicht auf den Bürgersteigen. Nur in Autos.
    Die Bürgersteige hier sind zementiert. Wie ein Kind vermeide ich es, auf die Risse zu treten. Ich erinnere mich an diese Bürgersteige aus der Zeit davor und daran, was ich an den Füßen trug. Manchmal waren es Schuhe zum Laufen, mit gepolsterten Sohlen und Luftlöchern, und mit Sternen aus fluoreszierendem Material, das im Dunkeln leuchtete. Doch bin ich nie bei Dunkelheit gelaufen und bei Tag nur an vielbefahrenen Straßen.
    Frauen wurden damals nicht geschützt.
    Ich erinnere mich an die Regeln, Regeln, die nie ausdrücklich formuliert wurden, aber die jede Frau kannte: Öffne keinem Fremden die Tür, auch nicht wenn er behauptet, er sei von der Polizei. Fordere ihn auf, seinen Ausweis unter der Tür hindurchzuschieben. Halte nie auf einer Landstraße an, um einem Autofahrer zu helfen, der angeblich in Schwierigkeiten ist. Laß das Auto verriegelt und fahr weiter. Dreh dich nicht um, wenn hinter dir jemand pfeift. Geh nachts nie allein in einen Waschsalon.
    Ich denke an die Waschsalons. An das, was ich anhatte, wenn ich in einen Waschsalon ging: Shorts, Jeans, Jogginghosen. An das, was ich in die Maschinen steckte: meine eigenen Kleider, mein eigenes Waschmittel, mein eigenes Geld, Geld, das ich selbst verdient hatte. Ich stelle mir vor, wie es ist, so viel selbst bestimmen zu können.
    Jetzt gehen wir die gleichen Straßen entlang, rote Paare, und kein Mann ruft uns Obszönitäten nach, spricht uns an oder berührt uns. Niemand pfeift.
    Es gibt mehr als nur eine Form von Freiheit, sagte Tante Lydia, Freiheit zu und Freiheit von. In den Tagen der Anarchie war es die Freiheit zu. Jetzt bekommt ihr die Freiheit von. Unterschätzt sie nicht.
     
    Vor uns, auf der rechten Seite, ist das Geschäft, wo wir die Kleider bestellen. Manche Leute nennen sie Trachten, ein treffendes Wort: Tracht als Last. Draußen hängt ein großes Holzschild in der Form einer goldenen Lilie: Die Lilien auf dem Felde, heißt das Geschäft. Unter der Lilie sieht man noch die Stelle, wo die Buchstaben übermalt wurden, als beschlossen wurde, daß selbst die Namen der Geschäfte eine zu große Versuchung für uns darstellten. Jetzt sind die Geschäfte nur noch an ihren Zeichen zu erkennen.
    Die Lilien – das war früher ein Kino, in das die Studenten viel gingen. Im Frühjahr gab es dort immer ein Humphrey Bogart-Festival, mit Lauren Bacall oder Katherine Hepburn, selbständigen Frauen, die wußten, was sie wollten. Sie trugen Blusen, die vorn zugeknöpft waren, was den Gedanken an die Möglichkeiten des Wortes aufgeknöpft nahelegte. Diese Frauen konnten aufgeknöpft sein – oder zugeknöpft. Sie schienen in der Lage zu sein, sich zu entscheiden. Wir alle schienen in der Lage zu sein, damals, uns zu entscheiden. Wir waren eine Gesellschaft, pflegte Tante Lydia zu sagen, die an ihren zu vielen Möglichkeiten zugrunde ging.
    Ich weiß nicht mehr, wann das Filmfestival eingestellt wurde. Ich muß schon erwachsen gewesen sein. Deshalb habe ich es gar nicht gemerkt.
    Wir gehen nicht in die Lilien, sondern überqueren die Straße und gehen eine Seitenstraße entlang. Unsere erste Station ist ein Laden, über dessen Eingang auch ein Holzschild hängt: drei Eier, eine Biene, eine Kuh. Milch und Honig. Eine Schlange hat sich davor gebildet, und wir warten zu zweit, bis wir an die Reihe kommen. Ich sehe, daß es heute Orangen gibt. Seit Mittelamerika an die Libertheos verlorenging, sind Orangen nur noch schwer zu bekommen: manchmal gibt es welche, manchmal nicht. Der Krieg beeinträchtigt den Orangentransport von Kalifornien herüber, und selbst auf Florida kann man sich nicht verlassen, wenn Straßensperren errichtet oder die Eisenbahnschienen gesprengt werden. Ich betrachte die Orangen, ich hätte gern eine. Aber ich habe keine Gutscheine für Orangen mitgebracht. Ich glaube, ich werde zurückgehen und Rita davon erzählen. Sie wird sich freuen. Es ist immerhin etwas, eine kleine Leistung, erreicht zu haben, daß es Orangen gibt.
    Wer bis zum Ladentisch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher