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Der Regenmacher

Der Regenmacher

Titel: Der Regenmacher
Autoren: John Grisham
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die Leute ansehen zu müssen, die mit ihren Klappstühlen anrücken.
    Es müssen an die fünfzig sein da vorne, etwa gleich viele Schwarze und Weiße, Durchschnittsalter mindestens fünfundsiebzig, einige blind, ungefähr ein Dutzend in Rollstühlen, viele mit Hörgeräten. Man hat uns gesagt, daß sie jeden Mittag hierherkommen – für eine warme Mahlzeit, ein paar Lieder, den gelegentlichen Besuch eines verzweifelten politischen Kandidaten. Nach zwei Stunden Geselligkeit kehren sie nach Hause zurück und zählen die Stunden, bis sie wieder herkommen können. Unser Professor hat gesagt, dies wäre der Höhepunkt ihrer Tage.
    Wir haben den schweren Fehler gemacht, zur Essenszeit hier einzutreffen. Sie brachten uns vier zusammen mit unserem Anführer, Professor Smoot, in einer Ecke unter und ließen uns nicht aus den Augen, während wir in Plastikhuhn und eiskalten Erbsen herumstocherten. Meine Götterspeise war gelb, und das bemerkte ein bärtiger alter Bock, auf dessen Namensschild über seiner schmutzigen Hemdtasche Bosco gekritzelt war. Bosco murmelte etwas über gelbe Götterspeise, und ich bot sie ihm an, zusammen mit meinem Huhn, aber Miss Birdie Birdsong fiel ihm schnell in den Arm und stieß ihn grob wieder auf seinen Stuhl. Miss Birdsong ist ungefähr achtzig, aber sehr flink für ihr Alter, und sie agiert als Mutter, Diktator und Rausschmeißer dieser Organisation. Sie geht mit den Leuten um wie eine altgediente Oberschwester, umarmt und klopft Rücken, plaudert mit anderen kleinen blauhaarigen Damen, lacht mit schriller Stimme und hat dabei die ganze Zeit ein Auge auf Bosco, der in diesem Haufen ganz offensichtlich der böse Bube ist. Sie machte ihm Vorwürfe, weil er meine Götterspeise bewundert hatte, stellte aber nur Sekunden später eine ganze Schüssel voll von diesem gelben Kitt vor seine funkelnden Augen. Er aß ihn mit seinen kurzen Fingern.
    Eine Stunde verging. Das Essen lief ab, als verzehrten diese ausgehungerten Seelen ein Festmahl aus sieben Gängen, ohne jede Hoffnung auf eine weitere Mahlzeit. Ihre zittrigen Gabeln und Löffel bewegten sich hin und her, auf und ab, als wären sie mit Edelmetallen beladen. Zeit spielte absolut keine Rolle. Sie schrien sich an, wenn ihnen gerade etwas einfiel. Sie ließen Essen auf den Boden fallen, bis ich es nicht mehr mit ansehen konnte. Ich aß sogar meine Götterspeise. Bosco, immer noch gierig, verfolgte jede meiner Bewegungen. Miss Birdie flatterte im Raum herum, zwitscherte über dieses und jenes.
    Professor Smoot, ein einfältiger Eierkopf mit schief sitzender Fliege, buschigem Haar und roten Hosenträgern, saß da mit der befriedigten Miene eines Mannes, der gerade eine gute Mahlzeit zu sich genommen hat, und bewunderte liebevoll die Szene vor uns. Er ist ein freundlicher Mensch, Anfang Fünfzig, aber mit Verschrobenheiten, die viel Ähnlichkeit haben mit denen von Bosco und seinen Freunden. Seit zwanzig Jahren hält er die harmlosen Vorlesungen, die sonst niemand halten will und die nur von wenigen Studenten belegt werden: Kinderrecht, Behindertenrecht, Seminare über Gewalt in der Ehe, Probleme der Geisteskranken und, natürlich, Gruftirecht, wie dies hier hinter seinem Rücken gewöhnlich genannt wird. Einmal hatte er vor, eine Vorlesung zu halten, die »Rechte des ungeborenen Lebens« heißen sollte, aber das löste einen derartigen Proteststurm aus, daß Professor Smoot rasch ein Jahr Pause einlegte.
    Am ersten Tag des Semesters erklärte er uns, der Zweck dieses Seminars wäre es, uns mit wirklichen Leuten mit wirklichen juristischen Problemen in Kontakt zu bringen. Er ist der Ansicht, daß zwar alle Jurastudenten mit einem gewissen Maß an Idealismus an die Universität kommen und dem Verlangen, der Öffentlichkeit zu dienen; daß wir aber nach drei Jahren brutalen Konkurrenzkampfes nichts anderes mehr im Sinn haben als den richtigen Job bei der richtigen Firma, bei der wir in sieben Jahren zum Partner aufsteigen und das große Geld verdienen können. Damit hat er recht.
    Dieses Seminar ist nicht Pflicht, und wir fingen mit elf Studenten an. Nachdem wir uns einen Monat lang Smoots öde Vorlesungen und die ständigen Ermahnungen angehört hatten, auf das Geld zu verzichten und umsonst zu arbeiten, waren wir auf vier geschrumpft. Es ist ein bedeutungsloses Seminar, zählt nur zwei Stunden und erfordert fast keine Arbeit, und das war es, was mich daran reizte. Einen Monat habe ich noch vor mir. Ich bezweifle stark, daß ich durchhalten würde,
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