Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
meine Frage zu beachten, sagte er: »Wißt Ihr, was auf dem Marktplatz geschah?«
    »Ihr meint das Mysterienspiel?«
    »Ich meine seine Ende«, erwiderte er.
    »Von Wetterau erhielt vom Gesandten des Papstes den Segen«, sagte ich, denn soviel hatte ich mit eigenen Augen gesehen. Auf meinem Weg vom Hause Schwalenbergs zur Herberge hatte ich einen Umweg durch den Bausumpf gewählt, weil ich befürchtete, auf dem Markt zu viele Menschen anzutreffen. War mir deshalb etwas entgangen?
    Doch was immer es auch sein mochte, auf das Hollbeck so mysteriös anspielte, für mich war es nicht länger von Bedeutung. Meine Zeit in Hameln war abgelaufen.
    »Den Schädel, bitte«, sagte ich, denn ehe es vollends Tag wurde, wollte ich die Stadt weit hinter mir gelassen haben. »Ihr wart immer gut zu mir, Vater Johannes. Zweimal habt Ihr mir die Gesundheit, wenn nicht gar das Leben gerettet. Doch den Bronzekopf muß ich zurückfordern. Er ist eine Erinnerung an einen treuen Freund.«
    Hollbeck nickte. »Natürlich.«
    Er drehte sich um und versank in den Schatten wie ein leckgeschlagenes Boot in einem schwarzen See.
    »Folgt mir hinab in den Berg, dort bewahre ich den Schädel für Euch auf.«
    Seine Schritte schepperten über den Stein, und ich beeilte mich, ihm nachzugehen. Ohne seine Führung war ich dort unten verloren. Mir war keineswegs wohl bei dem Gedanken, mit ihm allein hinab in die Tiefe zu steigen. Etwas sagte mir, daß es ratsam sei, auf ihn und sein Tun achtzugeben. War es denkbar, daß ihm der Bronzekopf viel mehr bedeutete, als ich bislang angenommen hatte? Oder würde der Alte nur die Möglichkeit nutzen, einen gesuchten Mörder in die Falle zu locken? Die Gefahren waren vielfältig, und doch war mir klar, daß der Schädel nur so zu erlangen war. Er war mein eigen, niemand sonst hatte das Recht, ihn zu besitzen. Ich würde seinen Ratschlag noch brauchen.
    Als ich durch den Höhleneingang trat, flackerte wenige Schritte vor mir plötzlich eine Fackel auf. Hollbecks wirrer Haarkranz leuchtete in ihrem Licht wie ein Heiligenschein.
    »Kommt nur, kommt!« forderte er erneut und ging voran.
    Ich folgte ergeben, Schwert und Scheide mit beiden Händen umklammernd. Das Bündel hing an einer Schnur um meine Schulter. Rüstzeug und Bibel schienen ihr Gewicht zu verdoppeln, als laste mit ihnen auch die Masse des Berges auf meinem Körper. Ich begann zu frieren.
    Wir nahmen denselben Weg wie bei meinem ersten Abstieg in den Kopfelberg. Nach einer Weile erreichten wir den unterirdischen See. Das Plätschern an seinen eisigen Gestaden klang wie Flüstern und Murmeln in meinen Ohren. Schatten, groß wie Häuser, krochen über die kantigen Wände. Die zahllosen Abzweigungen in den Felsen glotzten leer auf uns herab. Nachdem wir den See passiert hatten, stiegen wir die Stufen hinauf, die zum zweiten Zugang des Labyrinths führten. Irgendwo jenseits der Öffnung lag der dunkle Tannenhain und in ihm Hollbecks Alraunenzucht.
    Statt aber wieder ins Freie zu treten, wandte sich der Alte kurz vor dem Ausgang nach rechts und führte mich entlang eines abfallenden Ganges nach unten in eine hohe, domartige Kammer, die er offenbar als Heimstatt nutzte. Die Einrichtung war karg: ein Lager aus Decken und Fellen, ein Tisch, zwei Schemel, drei kleine Truhen und ein Brettergerüst, auf dem er allerlei Gefäße, Schriften und andere Gegenstände aufbewahrte. An einer Seite des runden Raumes stießen Wände und Boden nicht glatt aneinander; statt dessen führte eine Geröllhalde hinauf zu einem vorspringenden Felsen, etwa zwei oder drei Mannslängen über unseren Köpfen. Das Licht der Fackel beleuchtete ein mächtiges Kreuz, das Hollbeck dort oben aufgestellt hatte. Die Flamme warf den Schatten des Kreuzes schwarz und gewaltig über die gesamte Kuppeldecke. Es sah aus, als kralle sich ein riesiges Tier an den Fels, bereit, sich jederzeit auf uns herabzustürzen.
    Mit jedem Herzschlag wurde das Gefühl der Hilflosigkeit in meinem Inneren stärker. Ich forschte in mich hinein, bemüht, die Ursache meine Unruhe zu entdecken, aber all mein Streben blieb zwecklos. Der Eindruck einer Gefahr war allgegenwärtig, und doch konnte ich die Quelle derselben nicht ausfindig machen – was mich in nur noch größeres Unbehagen stürzte.
    Auf dem Tisch standen zwei Krüge, ganz so, als hätte Hollbeck mich erwartet.
    »Nehmt Platz«, bat er höflich. Derweil trat er mit der Fackel nacheinander an drei Feuerbecken und entzündete sie. Es wurde nun heller, wenngleich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher