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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
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ihn ihr Schicksal erfüllen. Denn nicht Soldaten hatte Herodes gesandt, keine Krieger, wie es die Kirche predigt, nein, nur diesen einen Mann. Er kam in bunter, lustig anzuschauender Kleidung, ein Geck und Possenreißer mit herzlichem Lachen und allerlei schöner Gaukelei. Doch tief in seinen Augen, im Dämmerschatten seiner fröhlichen Mütze, loderte ein schwarzes Feuer. Vielleicht hätten es die Alten bemerkt, wären sie ihm nahe gekommen. Der Fremde aber spielte und scherzte nur mit den Kindern, sang und reimte mit ihnen. Er schlich sich nicht in ihre Herzen, o nein, er stürmte mit Fanfaren geradewegs in sie hinein, und er tat es nicht im geheimen, sondern vor den Augen aller. Um den Hals des Fremden hing an einem Lederband eine hölzerne Flöte, und immer wieder baten und flehten die Kinder, er möge darauf spielen, doch immer wieder verwehrte er ihnen diesen Gefallen, so harmlos, so brav er auch scheinen mochte. Schließlich aber, nach einigen Tagen, tat er es doch, und er tat es bei Nacht, als die Erwachsenen schliefen, und seine Musik schlich sich in den schutzlosen Schlaf der Kleinen, fraß sich in ihren Geist und zwang ihnen den Willen des Fremden auf, seinen dunklen, bösen Willen. Unbemerkt folgten sie ihm aus der Stadt – und es waren wahrlich nicht nur jene, die zwei Jahre und jünger waren, sondern auch ältere, ganz so wie ihr selbst es seid. Unbemerkt zogen sie fort aus Bethlehem und verschwanden aus der Welt, und niemand sah sie jemals wieder.«
    Die Kinder Hamelns schauderten bei diesen Worten, einige der Jüngeren brachen in Tränen aus. Dies war eine häßliche Geschichte, und manch einer bereute bereits, hierhergekommen zu sein. Hände wurden ergriffen, Gesichter tiefer in die Wärme weiter Kapuzen gezogen.
    »Und wirklich niemand kehrte heim?« fragte ein Junge mit kahlem Schädel.
    »Keiner kehrte zurück«, bestätigte die Frau. »Und doch entgingen zwei Kinder dem furchtbaren Auszug.«
    »Wie das?« fragte ein Stimmchen aus der Kindermenge.
    Die Frau atmete tief durch und stützte sich auf ihren Stab. »Ein kleiner Junge zog mit seinen Eltern nur wenige Stunden zuvor fort aus Bethlehem. Ihr kennt ihn als Jesus von Nazareth.« Sie lächelte rätselhaft.
    »Noch ein zweites Kind blieb in der Stadt, ein kleines Mädchen mit lahmem Bein, das den anderen nicht schnell genug folgen konnte und so dem Bann des Flötenspielers entging.«
    »Was geschah mit Herodes?«
    »Er starb Jahre später, und seine Seele fuhr hinab in die tiefste aller Höllen, wo sie gemartert wird bis hin zum Jüngsten Tag.«
    Nach diesen Worten schwieg die Fremde für eine Weile, so daß einige Kinder sich bereit zum Aufbruch machten, denn sie glaubten, die finstere Erzählung sei endlich beendet. Schon erhoben sich die ersten, als die Frau sagte:
    »Eines habe ich euch noch verschwiegen, doch ihr sollt auch diesen Rest erfahren, wenn ihr mir einen Wunsch erfüllt.«
    »Erzähle!« rief ein Kind, doch ein anderes blieb mißtrauisch und fragte: »Welchen Wunsch?«
    Die Fremde schüttelte den Kopf. »Wollt ihr hören, was ich zu sagen habe, oder nicht?«
    Die meisten der Kleinen bejahten.
    »Nun«, sagte die Fremde und überwand den letzten Abstand zu den Kindern mit wenigen Schritten. Da bemerkten sie, daß die Frau hinkte; sie zog das linke Bein nach wie ein Ochse den Pflug. »Ich war einst das lahme Mädchen, das den anderen Kindern Bethlehems nicht folgen konnte.«
    Ein paar der kleinen Zuhörer kicherten ungläubig, anderen aber stockte der Atem. »Unmöglich«, sagte ein Mädchen mit großem Ernst, »dann müßtest du Hunderte von Jahren alt sein. Und nur der Heiland ist unsterblich.«
    Die Mundwinkel der Frau zuckten in den Schatten, doch sie gab keine Antwort:
    Ein anderes Kind sagte zum ersten: »Jesus starb am Kreuz, er war nicht unsterblich.«
    Ein Junge musterte die Fremde mit verkniffenem Blick. »Wenn Christus nicht unsterblich war, dann kann er nicht der Heiland gewesen sein, oder?«
    »Aber er erhob sich von den Toten«, warf ein anderer ein.
    »Tot ist tot. Niemand kann von den Toten auferstehen.«
    »Aber wenn er doch der Heiland –«
    »Hast du denn nicht zugehört?« fuhr einer der Ältesten dazwischen. »Er starb, also war er keiner.«
    Die Frau hatte all dem schweigend und mit schmunzelnder Belustigung zugehört. Jetzt aber, während die Kinder weiter darüber stritten, wer von ihnen im Recht sei und die Lügen des Evangeliums durchschaut habe, wandte sie sich wortlos um und humpelte stadtauswärts
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