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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
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ließ.
    Rechts von mir, am äußeren Rand der Bodensenke, gab es drei Alraunenpflanzen, die kleiner waren als die übrigen. Offenbar waren sie erst vor kurzem aus dem Boden gebrochen. Eilig machte ich mich daran, die übrigen zu zählen, und nach mehreren Anläufen kam ich auf die gefürchtete Zahl. Hundertunddreißig. Eine für jedes verbrannte Kind.
    Was die drei Nachzügler bedeuten mußten, wurde mir noch im gleichen Augenblick klar. Hollbeck hatte sie angepflanzt, nachdem ich die drei kranken Kinder getötet hatte. Er mußte schnell vorgegangen sein, da sie schon jetzt solche Größe erreicht hatten.
    Ich beugte mich zu den blasphemischen Pflanzen herab und schüttelte schweigend den Kopf. Die drei Alraunen waren kleiner als die übrigen, und doch reichten sie mir bereits bis über die Knöchel. Selbst wenn man ihren geisterhaft schnellen Wuchs in Betracht zog, schienen sie mir doch zu groß für so kurze Zeit. Zudem hatten alle drei die gleiche Höhe, so, als seien sie zur selben Stunde gesät worden. Wie aber war das möglich, wo doch zumindest eines der Kinder Tage vor den beiden anderen gestorben war? Die beiden letzten hatten ihr Leben erst vor zwei Nächten gelassen. Unmöglich, daß alle drei Alraunen erst danach ausgesät worden waren.
    Das aber bedeutete, daß die Pflanzen schon vor dem Tod der Kleinen zu wachsen begonnen hatten. Jemand mußte demnach den Mord an den Kindern vorausgesehen haben. Wie aber konnte das sein, wo doch nicht einmal ich selbst davon gewußt hatte? Ich, der ich das Messer geführt hatte!
    »Ich ahnte, daß Ihr hierherkommen würdet«, sagte Hollbeck hinter meinem Rücken.
    Aufgeschreckt wirbelte ich herum. Der Einsiedler stand starr in der Düsternis und hob sich kaum von den schwarzen Baumstämmen ab. In seinen Händen lag eine gespannte Armbrust. Ihr Bolzen wies auf meine Brust.
    »Warum habt Ihr es zugelassen?« fragte ich. Meine Stimme klang trocken und brüchig wie altes Pergament. Ich spürte, wie sich meine Kehle zusammenschnürte, als ich die Wahrheit begriff. Fackel und Schwert bebten in meinen Händen.
    Hollbeck zuckte unmerklich mit den Schultern. »Was hatte ich zu verlieren? Vielleicht wollte ich, daß Ihr alles versteht. Ich konnte Euch nach all dem unmöglich laufen lassen. Mir war klar, daß Ihr der Versuchung, hierherzukommen, nicht widerstehen würdet. Ich brauchte Euch nur in einigem Abstand zu folgen.«
    Ich starrte unverwandt auf die Armbrust. Der Bolzen würde meinen Oberkörper durchschlagen und einen Baumstamm obendrein, so straff war die Sehne gespannt. Die tödliche Spitze aus Eisen funkelte im Fackelschein wie ein tückisches Auge.
    »Ich habe niemanden getötet«, stieß ich atemlos hervor. »Ihr wart es! Ihr habt die Kinder ermordet!«
    Hollbeck lachte leise. »Das wäre einfach, nicht wahr? Einen alten Mann zum Mörder machen, der ohnehin die längste Zeit seines Lebens hinter sich hat. Doch so schlicht ist die Wirklichkeit nie, mein Freund. Die Zusammenhänge lassen sich nie auf so wenige Worte verkürzen, erst recht nicht bei Ereignissen wie diesen.«
    Die Eisenspitze wies völlig reglos auf mein Herz. Hollbeck zitterte nicht im geringsten. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher. Er stand zu weit entfernt, als daß ich ihn mit einem schnelle Sprung hätte erreichen können. Ich war ihm ausgeliefert.
    »Wenn nicht Ihr, wer war es dann?« fragte ich leise.
    Der Einsiedler seufzte. »Gemach, edler Ritter. Alles wird sich klären. Noch einen Augenblick, und derjenige, nach dem ihr so eifrig verlangt, wird hier bei uns eintreffen. Ich bin sicher, dann werdet Ihr vieles klarer sehen.« Er lächelte im Dunkeln. »Derweil laßt bitte Euer Schwert fallen.«
    Ich tat, was er verlangte, hielt aber immer noch die Fackel in der Hand. Daran schien er sich keineswegs zu stören, sicher, weil sie die einzige Lichtquelle im Tannenhain war. Selbst wenn es mir gelungen wäre, sie in weitem Bogen fortzuschleudern, wäre Hollbeck mir noch zuvorgekommen. Mein schnellster Sprung war nicht schneller als der eiserne Bolzen.
    Ich deutete auf die drei Alraunen. »Erklärt es mir«, bat ich tonlos.
    Hollbeck zögerte einen Augenblick, dann aber nickte er gefällig. »Natürlich«, begann er, »Ihr sollt alles erfahren. Ihr erinnert Euch an das, was ich Euch über den Kreuzzug der Kinder erzählte? Daß Tausende von uns im Jahre unseres Herren 1212 nach Palästina aufbrachen, um die Heiden mit den Waffen der Unschuld zu schlagen? Ich berichtete Euch von unserem Versagen
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