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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
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allein der Planer im Hintergrund war, so mußte jemand, der ihm nahestand, die Kinder getötet und dabei alles so eingerichtet haben, daß der Verdacht unweigerlich auf mich fallen mußte.
    Wer aber kam dafür in Frage? In meinem Kopf türmte sich Verdacht auf Verdacht, nur um gleich darauf verworfen zu werden. Erst langsam, viel zu langsam stieg eine entsetzliche Ahnung in mir auf.
    Ich kam nicht dazu, länger darüber zu grübeln, denn Hollbeck forderte mich auf, ihm mein Bündel hinüberzuwerfen. Ich tat, was er verlangte, und sah zu, wie der Alte mit beachtlichem Geschick die Schnüre löste, ohne die Armbrust dabei auch nur für einen Augenblick abzuwenden. Schließlich warf er das offene Bündel mit der Linken in einem weiten Halbkreis herum und starrte neugierig auf die Dinge, die sich zwischen seinen und meinen Füßen am Boden verteilten. Da lagen die Bibel, der Bronzekopf, das Wappen des Herzogs, meine Handschuhe, ein paar Kleidungsstücke und der Feuerstein. Außerdem bohrte sich mein Dolch in den Boden. Hollbeck nahm ihn sogleich an sich.
    Mein Blick fächerte über jeden der Gegenstände am Boden, während ich eilig überlegte, was davon als Waffe zu verwenden war. Hoffnungslos. Selbst die Heilige Schrift war kein geeigneter Schutz gegen den blitzenden Bolzen der Armbrust.
    Dann aber entdeckte ich etwas, das ich lange schon verloren glaubte. Tatsächlich hatte ich längst vergessen, es überhaupt zu besitzen.
    Kaum eine halbe Handspanne von meiner Ferse entfernt lag die winzige Wachskugel, die einst dem verbrannten Ketzer gehört hatte. Eine jener Kugeln, die bei seiner Hinrichtung so verheerende Wirkung gezeigt hatte. Ich hatte sie in Einhards Beisein geöffnet, um das Pulver in ihrem Inneren zu studieren. Anschließend hatte ich die Öffnung im Wachs wieder verknetet. Maria mußte das Teufelsding zusammen mit meinen übrigen Sachen ins Bündel gepackt haben. Gelobt sei ihre Weitsicht! Nun lag es da, gleich neben mir am Boden, unweit des Alraunenackers.
    »Warum tötet Ihr mich nicht gleich?« fragte ich, während mein Fuß unmerklich zur Seite scharrte.
    Hollbeck lächelte. »Ich bin immer noch Priester. Ein Stellvertreter des Herrn auf Erden. Wie sollte es in meiner Macht stehen, Euer Leben zu nehmen? Wie könnte ich mir eine solche Tat je verzeihen? Nein, ich habe nicht die Kinder ermordet, und ich werde Euch nicht ermorden.«
    Ich schnaubte abfällig. »Ihr macht Euch die Finger nicht schmutzig, nicht wahr? Ihr überlaßt das Töten einem anderen.«
    »Natürlich müßt Ihr es dergestalt auslegen, mein Freund.« Der Alte lächelte gütig. »Doch bedenkt, all dies dient einem höheren Streben. Die Suche nach Reinheit erfordert Opfer. Ich bringe meines, Ihr das Eure.«
    Ich trat von einem Fuß auf den anderen und hoffte, Hollbeck würde es als Erregung oder Furcht auslegen.
    Tatsächlich stieß ich damit die kleine Wachskugel mitten unter die Alraunen.
    Und dann ging alles ganz schnell.
    Ich ließ die Fackel fallen und versetzte ihr einen leichten Stoß, so daß sie gleichfalls in die Pflanzen stürzte. Sogleich veränderte sich das Licht. Die riesigen Schatten der Alraunenblätter flackerten über die Stämme und Hollbecks verzerrtes Gesicht. Der Einsiedler schrie auf, als er die Fackel zwischen seiner Zucht verschwinden sah, wurde aber ruhiger, als die Gewächse kein Feuer fingen.
    »Das war ein hehrer Versuch, edler Ritter«, sagte er und bemühte sich redlich, seinen Zorn zu unterdrücken. »Die Pflanzen sind feucht vom Tau, der Boden durchnäßt, und Eure Fackel kann ihnen wenig anhaben. Trotzdem möchte ich Euch bitten, Euch langsam zu bücken und sie wieder aufzu-«
    Ein gräßlicher Donnerschlag verschluckte den Rest seiner Rede. Ein Feuerball erblühte inmitten der Alraunen, und eine unsichtbare Macht, wie ein gottgesandter Windstoß von überirdischer Kraft, schleuderte mich mehrere Schritt weit über den Rand der Senke hinaus und durch das Geäst der vorderen Tannen. Zweige und Nadeln bohrten sich in meine Haut, etwas schrammte feurig durch mein Gesicht, dann sank ich stöhnend zu Boden. Mühsam stemmte ich mich auf die Ellbogen und sah über die Erdkante hinweg, daß es am Fuß der Senke brannte. In den umstehenden Bäumen hingen die Blätter der Alraunengewächse wie leblose Vögel. Die Wunde auf meiner Brust war aufgebrochen und näßte. Ein feuchtes Kreuz erschien auf meinem Wams.
    Mein Blick suchte nach Hollbeck und fand ihn auf der anderen Seite des Alraunenackers. Er lag reglos am
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