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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
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dazu?« fragte sie, und jetzt klang ihre Stimme wieder sanft wie schon so oft zuvor. Die Flammen drohten allmählich zu verlöschen. Die Schatten gewannen an Tiefe. »Ich habe Angst im Dunkeln«, sagte sie leise.
    Ich nickte und schoß ihr den Bolzen in die Stirn. Die Wucht riß sie nach hinten. Sie fiel über den Körper ihres Vaters. Blut floß in ihre aufgerissenen Augen.
    Ich trat vor, starrte in das Gesicht des besinnungslosen Alten, dann schlug ich so lange mit der Armbrust auf ihn ein, bis kein Leben mehr in ihm war.
    Ich verbrannte die Leichen zusammen mit den Resten der Alraunen.
    Als die Wurzeln zu Asche zerfielen, da war mir, als hörte ich aus den Flammen das Schreien heller Kinderstimmen. Doch als ich näher ans Feuer trat, da verstummten sie und schrien niemals wieder.
    EPILOG
    Manchmal sehe ich am Wegrand seltsame Pflanzen und Blätter. Dann steige ich vom Pferd und grabe, bis mir die Finger bluten, grabe, bis ich sicher bin, daß dort keine Wurzel im Erdreich gedeiht, heranwächst zu einem Wesen, das aussieht wie ein Mensch und doch keiner ist.
    Einmal nur fand ich eine Alraune. Einsam wuchs sie an der Straße zwischen Piacenza und Parma, im Schatten einer Eiche, an der man, so verriet mir ein Schäfer, seit Jahrzehnten die Räuber und Mörder hängt. An Orten wie diesem gedeiht das Böse wie nirgends sonst auf der Welt. Ich riß die Wurzel aus dem Boden und gab sie meinem Pferd zu fressen.
    In Florenz trank ich Rotwein, bis mir der Schädel brummte, und dort traf ich Dante wieder. Ich will meine Geschichte hier beenden, vielleicht mit meinem Ritt durch die langen Schatten der florentinischen Türme, Schatten, an deren Ende ein Sonnenlicht strahlt, das heller ist als jedes, das ich aus der Heimat kenne. Alles, was danach geschah, widersetzt sich der Feder. Es steht in keiner Verbindung zu den Ereignissen von Hameln.
    O ja, Hameln. Ein letzter Teil meines Berichts steht aus, und ich will ihn keineswegs verschweigen. Noch sind Fragen offen, und einige werden es bleiben. Ich kenne die Antworten, viele, nicht alle, doch dies ist die wichtigste, jene, auf die es am Ende ankommt.
    Ich bedeckte die Schlacke der Toten mit Erde, auf daß ihnen der Tannenhain zu einem würdigen Grabe wurde. Es kostete mich Überwindung, ein Kreuz aufzupflanzen, denn mit ihren verkohlten Gebeinen ruhten dort auch die Reste der Alraunen. Ich bin bis heute nicht sicher, ob den Pflanzen ein christliches Grabmal gebührte.
    Schließlich stieg ich den Berg hinunter, dort, wo er an die Straße nach Braunschweig stößt. Mein Plan war, von hier aus weiter nach Süden zu ziehen, doch etwas hielt mich zurück. Ich erinnerte mich an Hollbecks Worte:
    »Wißt Ihr, was auf dem Marktplatz geschah?«
    Ich wußte es nicht, doch die Neugier brannte heiß in mir, trotz allem, was geschehen war, und sie trieb mich entlang der Straße zurück in die Stadt. Ein Stück des Weges begleitete mich eine Fremde, gestützt auf einen Wanderstab, doch eines ihrer Beine war lahm, und so blieb sie am Stadttor zurück.
    Die Sonne ruhte noch hinter den Hügeln, wenngleich die Dämmerung stetig an Himmel gewann. Häuser, Hütten und Ruinen lagen eingehüllt in fahles Zwielicht. Sie hatten die Farbe von Asche.
    Kaum ein Mensch war auf den Beinen, die meisten ruhten noch im Rausche des Vortags. Allein die Ratten krochen durch den Schlamm, hinterließen winzige Spuren auf den befestigten Wegen. Ungehindert gelangte ich zum Marktplatz.
    Die Tribüne, auf der Herzog und Bischof mit ihrem Gefolge gesessen hatten, war verlassen, ebenso der Rest des Platzes. Scherben von Tonbechern, Essensreste und andere Überbleibsel der Festlichkeiten lagen verstreut auf dem Pflaster. Ein streunender Hund jagte einem Stück Stoff hinterher, das der Wind durch die Leere trieb. Er bellte kurz, als er mich sah, dann machte er sich kleinlaut hinterm Rathaus davon.
    Auf der Bühne regte sich kein Leben. Die langen Wimpel flatterten in der kühlen Morgenbrise. Sie waren das einzige, was sich bewegte.
    Nirgends war ein Mensch zu sehen.
    Die Kreuze standen aufrecht wie ein erhobener Dreizack. Am mittleren hing von Wetteraus Leichnam. Das, was davon übrig war.
    Seinen Kopf hatte man als erstes gestohlen. Die klaffende Wunde oberhalb seiner Kehle war bereits schwarz und verkrustet. Auch seine Arme waren fort, ebenso das rechte Bein. Vom linken war nur noch ein Stück des Oberschenkels zu erkennen. Zweifellos würde auch dies im Laufe des Vormittags einen neuen Besitzer finden. Jemand hatte
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