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Der Puppengräber

Der Puppengräber

Titel: Der Puppengräber
Autoren: Petra Hammesfahr
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Hochzeit hatte sie von Jakob gehört, dass auch Trude in Lohberg aufgewachsen war. Neu im Dorf, nicht vertraut mit den Gepflogenheiten auf dem Lande, schüchtern und überfordert von Brunos Verhalten, sah Renate ausgerechnet in Trude den einzigen Menschen, mit dem sie offen reden konnte.
    Von sieben Abenden in der Woche verbrachte Bruno sechs außer Haus. Seine Mutter fand, man könne einem jungen Mann ein Bierchen nach Feierabend nicht verweigern. Sein Vater riet ständig, Renate solle Bruno begleiten und sich vergewissern, dass es bei den Bierchen in Ruhpolds Schenke blieb. Aber Bruno wollte sie nicht mitnehmen. Seit sie verheiratet waren, wollte er sie eigentlich gar nicht mehr. Wenn er mit ihr schlief, höchstens einmal im Monat, war das eine Sache von fünf Minuten. Und dabei schwärmte er ihr von Maria Jensen vor, stieß Verwünschungen aus gegen Paul Lässler und Erich Jensen. Aber an Scheidung wagte Renate nicht zu denken, was sollte dann aus ihrem Sohn werden?
    Da wusste Trude beim besten Willen keinen Rat. Siekonnte nicht einmal richtig zuhören, war nur bemüht, Ben von Renates Kinderwagen fernzuhalten.
    Am schlimmsten war es immer, wenn Thea Kreßmann erschien, um dumme Ratschläge zu erteilen und ihren Albert vorzuführen wie einen gut dressierten Hund. Thea kam mindestens viermal in der Woche und wies auf die Unterschiede hin, als ob Trude die nicht selbst bemerkt hätte. Albert konnte Eier einsammeln, jedenfalls behauptete Thea, er würde ihr dabei helfen. Wahrscheinlich wusste Thea nicht einmal, wie ein Hühnerstall von innen aussah.
    Ben wusste es umso besser, weil Trude ihn zwangsläufig an ihrer Seite halten musste. Und wenn sie nicht hinschaute, schnappte er sich ein Küken, rieb sich die Wangen damit ab und stopfte es sich in die Hosentasche. Wenn es dort ankam, hatte er es meist schon in der Faust zerdrückt.
    Als er fünf Jahre alt wurde, konnte er es an Größe, Gewicht und Körperkraft bereits mit einem Achtjährigen aufnehmen. Allmählich begannen die Leute, ihn misstrauisch zu beäugen. Trude schwitzte Blut und Wasser, wenn sie ihn mit ins Dorf nahm – mitnehmen musste, weil Anita sich weigerte, ihn auch nur für eine Viertelstunde zu betreuen, und Bärbel nicht mit ihm fertigwurde.
    Also lief oder stand er neben Trude, den Mund halboffen, einen Speichelfaden über das Kinn gezogen, die Stirn in Falten gelegt, als denke er unentwegt über ein schwieriges Problem nach. Vielleicht tat er das. Wer wusste schon, was ihm durch den Kopf ging? Manchmal stieß er unvermittelt einen wilden Schrei aus, und die Leute drehten sich auf der Straße um. Manchmal sprang er urplötzlich in die Luft, und Trude renkte ihm fast den Arm aus im Bemühen, ihn vor einem Sturz zu bewahren.Hielt sie ihn nicht fest genug am Handgelenk, riss er sich häufig los, stürzte auf Passanten zu, umklammerte sie mit blödem Grinsen. Und Trude fühlte sich, als ginge sie mit einem tollwütigen Hund spazieren.
    Die meisten Leute wagten es nicht, sich zu beschweren, wenn er sie belästigte. Jakob und Trude waren angesehene Bürger, da rang man sich ein gequältes Lächeln ab, strich ihm mit spitzen Fingern übers Haar und sagte: «Ach, das ist doch nicht so schlimm, Frau Schlösser.»
    Für Trude war es schlimm. Sie litt unter Herzrasen, Kreislaufbeschwerden, Schlafstörungen und Schweißausbrüchen. Zweimal die Woche musste sie ihren Blutdruck messen lassen, hielt ihn auch dabei an der Hand oder auf dem Schoß. Hielt seine Hände fest im Griff, weil er sonst nach den blinkenden Instrumenten grapschte, die in einer Schale auf dem Tisch lagen, neben dem sie in der Arztpraxis Platz nehmen musste. Alles, was blinkte, faszinierte ihn. Keine Gabel, kein Löffel, kein Messer auf dem Tisch war sicher vor seinem Zugriff. Hundertmal am Tag rief Trude: «Finger weg!»
    Noch schlimmer als das ständige Grapschen war sein Nachahmungstrieb. Wenn Albert Kreßmann Faxen machte, war Ben sein Spiegelbild. Wenn der kleine Dieter Kleu seine Mutter vors Schienbein trat und sich vor Wut auf den Boden warf, weil er seinen Willen nicht bekam, lag Ben Sekunden später neben ihm.
    Wenn Bärbel sich am Nachmittag eine Puppe vom Bett holte, wollte er auch eine haben. Und wenn Trude ihm die Puppe aus der Hand nahm, weil er doch ein Junge war, warf er sich auf den Boden, wie er es oft bei Dieter Kleu sah, kreischte und heulte, trat mit den Füßen und schlug mit dem Kopf auf. Oder er rannte auf seinen flinken Beinen in den Hühnerstall, erwürgte zwei oder
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