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Der Protektor (German Edition)

Der Protektor (German Edition)

Titel: Der Protektor (German Edition)
Autoren: Christina Czarnowske
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Boden über die Sessel fortpflanzt und allmählich jeden Menschen entspannt. Im hellen Kreis des Fensters blendet eine Sonne, die von den schwanenweißen Wolken unter uns reflektiert wird. Wann ist das gewesen? Es ist noch keine Woche her, dass ich durch das Fenster dieselben Wolken und dieselbe nahe Sonne des Nordens gesehen habe. Aber ich habe das Gefühl, dass Monate vergangen sind. Das kommt von der Anspannung und der allzuschnellen Jagd der Ereignisse, mit denen diese Woche angefüllt war.
    Ich strecke die Hand aus und ziehe die farbige Sonnenblende über das Fenster. Die Wolken unter mir werden auf einmal zu einem blauen Schleier, der Himmel wird dunkelviolett und drohend. Nein, vorher war es besser. Ich lehne den Kopf an den Sessel, schließe die Augen und versuche an etwas anderes, nicht an Krongatan zu denken. Es wird mir wohl kaum gelingen. Der Körper entspannt sich, das Bewusstsein nicht. In ihm tauchen wie zerschnittene Filmstreifen Szenen und Teile von Szenen auf, Gespräche und unzusammenhängende Gedanken. Ich kann sie jetzt nicht gebrauchen, sie ermüden mich nur, aber so ist das menschliche Gedächtnis – es hat seine eigenen Gesetze, die sich dem Willen nicht allzu sehr unterwerfen. In Paris dann, wenn ich den Bericht schreiben muss, werde ich mich abquälen, diese selben Szenen und Gedanken aus dem Gedächtnis zu holen, und nichts wird herauskommen. Der Bericht wird trocken ausfallen, stockend und voller dienstlicher Phrasen, die mir selber peinlich und ärgerlich sein werden.
    Ein Bericht. Dutzende habe ich geschrieben und immer das Gefühl dabei gehabt, nicht genau wiedergeben zu können, was geschehen ist. Immer hat sich mir etwas entzogen, und wenn ich darüber nachdachte, habe ich erkannt, was es war. In den Berichten gibt es Fakten und Motive, die die Fakten in Zusammenhänge bringen, meistens fehlen jedoch die Gefühle – jene unvorhersehbaren Fäden, die sich alle zu vermutlichen Motiven verwirren. Die die Menschen veranlassen, sich anders zu verhalten, nicht so, wie es die Umstände und die Vernunft erfordern würden. Die zu absurden Fehlern führen und zu noch absurderen Schritten der in diese Fehler Verstrickten. Der Mord an Yanis Bresson hat sich als sonderbare Mischung von kaltem Verstand und Gefühlen herausgestellt. Was war eigentlich geschehen? Und ich überdenke abermals die Fakten, denn so ist es nun einmal – das Skelett eines Berichts sind die Fakten. Die dramatische Verknüpfung der Ereignisse hat ihren Ursprung in Bresson selbst, in seiner Arbeit. Ich kann mir vorstellen, wie es gewesen ist. Da ist er am Morgen gekommen, hat sich gewissenhaft an den Arbeitstisch vor dem Fenster gesetzt, hat das Mikroskop herangezogen, während Tyra die funkelnden Metallgestelle mit den Reagenzgläsern aufgebaut hat. Und es begann die alltägliche Ameisenarbeit, eine Arbeit, bei der fast alles bekannt war und die mit ihren winzigen Beiträgen die schon bekannten Dinge bestätigt oder ergänzt hat. Eine langweilige, aber für die echte Wissenschaft unendlich notwendige Arbeit. Denn wer da glaubt, in der heutigen Wissenschaft gebe es noch einsame Geistesblitze oder glückliche Einfälle, der kennt die Wissenschaft von heute einfach nicht. Auch Bresson hat geduldig an dem vorgegebenen Thema gearbeitet, hat Notwendigkeit und Nutzen dieses Alltags sehr wohl eingesehen und sich damit abgefunden. Um zehn hat ihn Tyra Kaffee gekocht, die beiden haben sich hingesetzt und sich leise ein bisschen unterhalten, wahrscheinlich ist auch Hausen dazugekommen, um ihnen mit seiner Überheblichkeit auf den Geist zu gehen, oder die pedantische Falk hat sie zu einer Beratung zusammengerufen. Um ein Uhr ist Doktor Bresson in die Klubgaststätte essen gegangen und Tyra in die Institutskantine; danach sind sie ins Labor zurückgekehrt. Noch ein bisschen arbeiten, Versuche für den nächsten Tag ansetzen oder ein Gang in die Radiologie oder ins Vivarium, um einen Blick auf die Tiere zu werfen. Und damit war das Tagesprogramm beendet. Aber dann fing es eigentlich erst richtig an: der einsame Geistesblitz, das Absurdum in der Wissenschaft von heute, das Experiment unter zufälligen Bedingungen. Die Ketzerei der gewissenhaften Wissenschaftler. Das, was Yanni ungeachtet aller Grundregeln am Herzen lag. Und dessentwegen der gesetzte Doktor Bresson, Kandidat der Wissenschaften, wieder zum Yanis wurde, zu dem naiven, romantischen Studenten mit den unwahrscheinlichsten Händen. Er wurde zum Alchimisten, dem seine fixe Idee
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