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Der Professor

Titel: Der Professor
Autoren: John Katzenbach
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hatte, besonders im Winter, anstelle einer wärmeren Skimütze vielleicht. Die Kappe war, aus unerfindlichen Gründen, ein äußerst beliebtes Kleidungsstück.
    Was besagte, dass die Eigentümerin sie nicht einfach so am Straßenrand liegen gelassen hätte.
    Adrian holte tief Luft und ging noch einmal alles genau durch, was er gesehen und mitbekommen hatte. Er wendete jeden Eindruck vor seinem geistigen Auge hin und her so wie die Baseballkappe mit den Händen:
Das Mädchen mit der entschlossenen Miene. Die Frau am Steuer. Der Mann an ihrer Seite. Das kurze Zögern, als sie neben dem Teenager hielten. Das schnelle Anfahren und Verschwinden. Die zurückgebliebene Kappe. Was war passiert?
    Flucht? Ausbruch? Vielleicht war es eine von diesen Sekten- oder Drogeninterventionen, bei denen die selbsternannten Helfer über ihre Zielperson herfallen, um dann in einem billigen Hotelzimmer ihre Tiraden gegen sie loszulassen, bis das arme junge Ding sich bekehrt oder einer Sucht schuldig bekennt.
    Er glaubte nicht, dass er so etwas beobachtet hatte.
    Er befahl sich:
Geh noch einmal alles durch. Jede Einzelheit, bevor du alles vergessen hast.
Denn er hatte Angst, dass alles, woran er sich erinnerte, und alles, was er daraus abgeleitet hatte, sich in kürzester Zeit in nichts auflöste wie der Frühnebel in der Sonne.
    Er stand auf, trat an eine Kommode und fand einen Stift sowie ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch. Gewöhnlich hatte er die dicken, eleganten weißen Seiten zu Notizen für Gedichte verwendet, den einen oder anderen Gedanken, eine Wortgruppe notiert oder auch Reime, die sich später weiterentwickeln ließen. Er hatte das Buch von seiner Frau bekommen, und wenn er die glatte Oberfläche berührte, erinnerte es ihn an sie.
    Also ließ er noch einmal alles Revue passieren und schrieb diesmal auf ein leeres Blatt ein paar Gedächtnisstützen:
Das Mädchen
 … Sie hatte nur geradeaus geblickt, und er glaubte nicht, dass sie ihn auch nur gesehen hatte, als er an ihr vorbeifuhr. Sie hatte einen
Plan,
so viel stand fest, allein schon nach ihrer Blickrichtung und ihrem Schritttempo zu urteilen – und der hatte alles andere ausgeblendet.
    Die Frau und der Mann
 … Er war in seine Einfahrt abgebogen, bevor der weiße Lieferwagen heranfuhr, auch daran gab es keinen Zweifel. Hatten sie ihn in seinem Wagen bemerkt? Nein. Unwahrscheinlich.
    Das kurze Zögern
 … Sie waren dem Mädchen gefolgt, und sei es auch nur ein paar Meter weit. Das war offensichtlich.
Es hatte so gewirkt, als ob sie das Mädchen taxierten.
Was war danach wohl passiert? Haben sie miteinander gesprochen? Haben sie dem Mädchen
angeboten,
einzusteigen? Vielleicht kannten sie sich, und es handelte sich nur um die gutgemeinte Einladung, sie ein Stück mitzunehmen. Nicht mehr und nicht weniger. Nein, dafür fuhren sie viel zu schnell weg.
    Was genau hatte er gesehen, als sie um die Ecke bogen?
Ein Kennzeichen von Massachusetts:
QE2D
. Er schrieb es auf. Er versuchte, sich die anderen beiden Ziffern ins Gedächtnis zu rufen, doch vergeblich. Umso deutlicher erinnerte er sich an das Aufheulen des Motors und das Quietschen der Reifen, als der Transporter losfuhr.
    Und dann blieb die Kappe liegen.
    Er hatte Mühe, das Wort
Entführung
zu Ende zu denken, und als er es doch tat, sagte er sich, dass dieser Schluss einfach nur abwegig sei. Da, wo er lebte, herrschten Vernunft, Bildung und Logik, außerdem ein ausgeprägter Sinn für Kunst und Schönheit. Seine Welt prägten Institutionen, an denen Wissen vermittelt wurde. Entführung – dieses hässliche Wort gehörte in dunklere Regionen und hatte in seiner Wohngegend keinen Platz.
    Sicher, insgeheim taten sich wohl auch in den stillen Reihen gepflegter Vorstadthäuser hier und da moralische Abgründe auf – häusliche Gewalt, Fremdgehen, Drogenmissbrauch an der Highschool, Alkohol und ausschweifende Partys. Vielleicht hinterzogen manche Steuern oder betrieben fragwürdige Geschäfte – solche Dinge hätten ihn hinter der gutbürgerlichen Fassade nicht weiter verwundert. Doch er konnte sich nicht erinnern, in dieser Gegend je einen Schuss gehört zu haben. Selbst Blaurotlicht hatte er auf den umliegenden Straßen noch nie blinken gesehen.
    Diese Dinge passierten anderswo. Sie gehörten in die Abendnachrichten, in die Live-Berichte aus den nahe gelegenen Metropolen, sie füllten die Schlagzeilen der Tageszeitung.
    Adrian betrachtete die Ruger Automatik. Die Hinterlassenschaft seines Bruders.
    Niemand
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