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Der Professor

Titel: Der Professor
Autoren: John Katzenbach
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kleinen Anteil vielleicht. Einen unmaßgeblichen Anteil. Eine Sekunde lang stellte er sich vor, dass er lieber der Krähe zuhören sollte, und plötzlich stellte er schockiert und verwirrt fest, dass er für einen Augenblick dachte,
es sei die Krähe,
die ihm diesen Vortrag hielt. Da das eher unwahrscheinlich war, senkte er den Blick und zwang sich, dem Doktor zuzuhören.
    »… Es tut mir leid, Professor Thomas«, sagte der Neurologe zögernd. Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Aber ich glaube, Sie leiden in fortgeschrittenem Stadium an einer relativ seltenen Krankheit namens Lewy-Körper-Demenz. Sagt Ihnen das was?«
    Vage, ja. Er hatte den Begriff schon ein-, zweimal gehört, wenn ihm auch nicht gleich einfiel, wo. Vielleicht hatte ihn einer der Kollegen am Psychologischen Institut der Universität einmal verwendet, um ein Forschungsprojekt zu begründen oder sich über ein Förderantragsverfahren zu beklagen. Er schüttelte trotzdem den Kopf. Besser, er hörte die ungeschminkte Wahrheit von einem Experten auf diesem Gebiet, auch wenn der Arzt viel zu jung war.
    Die Worte flogen ihm wie Schutt nach einer Explosion um die Ohren und rieselten wie Trümmerstaub auf die Schreibtischplatte:
Stetig. Fortschreitend. Rapide Verschlechterung. Halluzinationen. Kontrollverlust der Körperfunktionen. Verlust des kritischen Denkvermögens. Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Verlust des Langzeitgedächtnisses.
    Und schließlich das Todesurteil: »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber typischerweise gehen wir von fünf bis sieben Jahren aus. Vielleicht. Und ich glaube, dass Sie …« – der Arzt legte eine Pause ein und blickte auf seine Notizen, bevor er fortfuhr – »… bereits seit mindestens einem Jahr an dieser Krankheit leiden, somit wäre dies die maximale Lebenserwartung. In den meisten Fällen schreitet die Krankheit bedeutend schneller fort …«
    Nach kurzem Zögern folgte ein serviles »Wenn Sie eine zweite Meinung einholen wollen …«.
    Wieso,
fragte Adrian sich,
sollte er eine schlechte Nachricht zweimal hören wollen?
    Und dann ein weiterer und einigermaßen vorhersehbarer Schlag: »… Die Krankheit ist nicht heilbar. Es gibt Medikamente, die einige der Symptome lindern können – Alzheimer-Mittel, atypische Antipsychotika, um die Trugbilder und Wahnvorstellungen zu behandeln –, doch garantieren können wir nichts, und oft bringen sie keine signifikante Besserung mit sich. Doch man sollte es damit probieren, um zu sehen, ob sie die Funktionen für eine gewisse Zeit aufrechterhalten …«
    Adrian wartete eine kleine Pause ab, bevor er sagte: »Aber ich fühle mich nicht krank.«
    Der Neurologe nickte. »Auch das ist leider typisch. Für einen Mann Mitte sechzig sind Sie in einer ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Sie haben das Herz eines viel jüngeren Mannes …«
    »Viel Sport und Joggen …«
    »Nun, das ist gut.«
    »Demnach bin ich gesund genug, um bei meinem eigenen Verfall zuzusehen? Wie von einem Ringplatz bei meinem eigenen K. o.?«
    Der Neurologe ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ja …«, sagte er schließlich. »Aus einigen Studien können wir den Schluss ziehen, dass möglichst viel geistige Betätigung in Kombination mit einem körperlich aktiven Alltag sowie Sport die Wirkung auf die Stirnlappen, in denen die Krankheit lokalisiert ist, teilweise verzögern können.«
    Adrian nickte. Das wusste er. Ebenso wie er wusste, dass die Stirnlappen für Entscheidungsprozesse zuständig sind und für die Fähigkeit, die Welt zu begreifen. Die Stirnlappen waren mehr oder weniger der Teil seines Gehirns, der ihn zu dem gemacht hatte, der er war, und der ihn jetzt zu einem vollkommen anderen und wahrscheinlich nicht wiederzuerkennenden Menschen machen würde. Von einem Moment zum anderen rechnete er nicht mehr damit, noch lange Adrian Thomas zu sein.
    Dieser Gedanke beschäftigte ihn, und er hörte dem Neurologen nicht länger zu, bis die Frage in sein Bewusstsein drang: »Haben Sie zu Hause Hilfe? Frau? Kinder? Andere Angehörige? Es wird nicht lange dauern, bis Sie auf eine gute Versorgung angewiesen sind. Danach werden Sie in eine Pflegeeinrichtung wechseln müssen. Ich würde möglichst bald mit diesen Menschen sprechen. Ihnen begreiflich machen, was Ihnen bevorsteht …« Während er das sagte, griff der Arzt nach einem Rezeptblock und machte sich zügig daran, reihenweise Medikamente aufzuschreiben.
    Adrian lächelte. »Ich habe alle Hilfe, die ich brauchen werde,
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